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Dan Graham, der in den 1960er Jahren mit konzeptuellen Arbeiten begann, ist heute vor allem durch seine hybriden architektonischen Entwürfe und Skulptur-Pavillons aus Zwei-Wege- Spiegelglas bekannt, die er seit 1978 entwirft. Diese sind einerseits als Denkmodelle konzipiert, die eine kritische historische Perspektive eröffnen [1] , zum anderen sind sie als konkrete Erfahrungsmodelle gedacht, die den Betrachter/Besucher in ein komplexes Zusammenspiel von Spiegelungen, Transparenzen und unterschiedlichen Beobachterpositionen verstricken. Sie setzen keine speziellen historischen Kenntnisse und nicht einmal ein Kunstinteresse voraus, sondern eröffnen ein leibhaftes Verständnis kultureller und psychologischer Wahrnehmungsdispositionen.
In manchen Skulptur-Pavillons gelingt die Integration der Bestimmungen des historischen Denkmodells und des Erfahrungsmodells primär emblematisch. Zu den Entwürfen, in denen diese Bestimmungen jedoch effektiv zusammenfallen, zählt Graham an erster Stelle sein »Cinema« von 1981, das bis heute nur als Architekturmodell existiert. Grahams »Cinema« ist integraler Bestandteil eines typischenBürogebäudes, dessen »glass curtain wall« aus Zwei-Wege-Spiegelglas besteht. Dieses hat die Eigenschaft, auf der Seite, auf der in einem Moment mehr Licht ist, zum Spiegel zu werden und für einen Betrachter auf der dunkleren Seite zu durchsichtigem Glas. In den Firmenarchitektur erzeugt es (im Gegensatz zu dem früher verwendeten durchsichtigen Glas) den Eindruck einer psychologischen Abschottung nach aussen.
Das »Cinema« befindet sich im Erdgeschoss eines Eckgebäudes, in dessen zur Straßenecke gelegenen Kante ein leicht gebogener Projektionsschirm aus Zweiwege-Spiegelglas eingepasst ist. (Im Modell sieht man anstelle des Zylindersegments nur eine flache Scheibe.) Der Projektionsschirm ist von außen sichtbar und durch normales Glas zur Strasse hin geschützt. Die Sitzreihen des quadratischen, diagonal ausgerichteten Innenraums bilden eine Schräge, wobei sich die untersten Sitzreihen 7 Fuss (ca. 2,10 Meter) unter der Projektionswand befinden. (Im Modell ist dieser Abstand nicht genau wiedergegeben, da man sonst eine Art Kellergeschoss hätte bauen müssen).
Der Passant auf der Strasse hat die Möglichkeit, sowohl den Film – ohne Ton und seitenverkehrt – zu sehen als auch – je nach den Lichtverhältnissen im Film selbst (d.h. insbesondere, wenn eine Filmsequenz sehr hell ist) – durch die Projektionswand hindurch auf das Kinopublikum zu schauen. Durch die Seitenwände aus Zweiwege-Spiegelglas dagegen lässt sich während der Filmvorführungen von außen nicht hindurch schauen, da die Strassen im Normalfall stärker beleuchtet sind als das Kino durch die Filmprojektion, so dass die Glasfassade von außen zum Spiegel wird. Vor und nach den Filmvorführungen aber ist das Kinopublikum im Inneren zu sehen, wie es sich auflöst bzw. neu zusammensetzt.
Für den Filmbetrachter im Inneren des Kinos ist die Situation umgekehrt: Auf dem Projektionsschirm sieht er während der Filmvorführung das normale Filmbild, doch hat er die Möglichkeit, durch das Zwei-Wege-Spiegelglas an den Seiten einen schwachen Eindruck vom Leben auf der Strasse und der architektonischen Umgebung außerhalb des Kinos zu erhalten. Vor und nach der Vorstellung sieht er sich zusammen mit den anderen Kinobesuchern in dem spiegelnden Projektionsschirm und weiß zugleich, dassdie spiegelnden Scheiben von außen durchsichtig sind. Die Situation ist damit so strukturiert, dass zwei Arten von Voyeurismus – die des Filmbetrachters und die »normale« (Beobachtung einer »Live«-Situation) – architektonisch aufeinander bezogen sind. [2]
In einem Essay »Theater, Kino, Macht« [3] hat Graham sein »Cinema« zur Geschichte des westlichen Theaters in Beziehung gesetzt und die wesentlichen historischen »Einstiegs-« und »Kristallisationspunkte« deutlich gemacht: die Entstehung des Theaters als einer architektonisch geschlossenen Form, die auf der Bühne die ideale Stadt repräsentiert, in der Renaissance; das »Leben als Theater« am Hof des Sonnenkönigs Louis XIV (das von Rüdiger Schöttle unter Einbeziehung von Grahams Cinema-Modell zum historischen Bezugspunkt eigenständiger Ausstellungskonzeptionen gemacht wurde [4] ; das »kinofizierte Theater« der 1920er Jahre (Gropius-Piscator, Lissitzky-Meyerholdt, Kiesler u.a.) sowie im Zusammenhang damit die Kinokonzeption des »Cineac« (1934 in Amsterdam) des holländischen Architekten Johannes Duiker, von der Graham sein »Cinema« typologisch ableitet; und schließlich – als historischer Gegenwartsbezug – der Umstand, dass mit Ronald Reagan ein ehemaliger Hollywood- Filmschauspieler zum Präsidenten der Supermacht USA avancierte. Die Frage nach den jeweils veränderten Beziehungen zwischen politischer Macht und dem institutionalisierten Einsatz von Medien verbindet diese verschiedenen historischen Bezugspunkte und leistet ihrer Verknüpfung zu einem einzigen historischen Reflexionszusammenhang Vorschub. Um jedoch zu verstehen, wie Grahams »Cinema« selbst einen solchen Reflexionszusammenhang herstellt und sich in ihm situiert, ist zugleich ein anderer Zugang notwendig: eine Analyse der Funktionsweise des Kinos in seiner gewöhnlichen Form. Nur wenn sich zeigen lässt, dass (nicht dieser oder jener Film, sondern) das Kino in seiner Normalität psychologische Grunddispositionen schafft, die politisch und ideologisch wirksam werden, bedeutet eine Aufhebung dieser Normalität, wie Graham sie betreibt, ein unmittelbares Transparent-Werden dessen, was nach einer historischen Klärung verlangt.
Graham hat selbst darauf verwiesen, dass sich sein »Cinema« auf Konzepte stützt, die von der metapsychologisch orientierten Filmtheorie in den1970er Jahren entwickelt wurden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sein »Cinema« mit einem bestimmten vorgefassten theoretischen Standpunkt oder Konzept einfach identifizierbar wäre. Denn der Gebrauch, den Graham von den filmtheoretischen Konzepten macht, ist durch die entsprechenden Theorien nicht gedeckt. Deshalb kann auch die Kritik, die an diesen Theorien geübt wurde, nicht unmittelbar auf Grahams »Cinema« übertragen werden, doch kann aus der Heterogenität der theoretischen Bezugspunkte die Komplexität des »Cinema«-Projekts und sein Ort innerhalb einer fortlaufenden filmtheoretischen Debatte ersichtlich werden.
Die Weise, in der Graham filmtheoretische Konzepte aufgegriffen hat, lässt sich am ehesten von seinen frühen Film-Performances (1969-73) her verstehen, denen jeweils einfache Aufgabenstellungen zugrunde liegen. [5] Eine herausragende Bedeutung kommt innerhalb dieser Werkgruppe »Body Press« (1970-72) zu, auf das deshalb etwas näher eingegangen werden soll: Zwei Performer befinden sich mit dem Rücken zueinander nackt in einem verspiegelten Zylinder. Jeder der Performer hält eine Kamera, die mit der Rückseite an den eigenen Körper gepresst und langsam um den Zylinder des Körpers herumgeführt wird. Der gesamte Oberkörper wird auf diese Weise in Form einer Helix – aufwärts und abwärts – abgetastet. Die Kamera nimmt diesen Vorgang in der Spiegelung durch den Zylinder auf und ist zugleich selbst Teil dieses Vorganges. Nach jeder Umrundung werden die beiden Kameras zwischen den Performern ausgetauscht. Die Kamera bzw. der von ihr aufgenommene Film stellt auf diese Weise einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen der Körperempfindung und -motorik der beiden Performer her. Projiziert werden die beiden Filme als Endlosschleife auf gegenüberliegende Wände eines kubischen weißen Galerieraumes. Grahams Film-Performance ist darauf angelegt, den Film als Medium, das scheinbar ausschließlich – und strikt monokular – auf die visuelle Wahrnehmung bezogen ist, in einen unlösbaren Zusammenhang mit der intersubjektiven und intrasubjektiven Leiberfahrung der Performer zu versetzen. Der Spiegelzylinder wird topologisch zu einer optischen Haut, die vomFilmbetrachter von innen – in Einheit mit der Haut der Performer – erlebt wird. Durch das Pressen der Kameras an den Körper und durch den Spiegelzylinder, der die Erscheinung des Körpers ins Breite zieht, wird in einem kontinuierlichen Vorgang das sensomotorische Innere ins Äußere verkehrt und sichtbar gemacht. Während der Filmbetrachter normalerweise im Kinosessel versinkt und seinen Körper vergisst, sieht er sich durch Grahams »Body Press« mit einer Film-Performance konfrontiert, die das genaue Gegenteil bewirkt. Seine Position zwischen den Projektionsflächen lenkt seine Aufmerksamkeit unmittelbar auf das eigene Körperempfinden, das nicht als ›privater Raum‹ definiert ist, sondern als intersubjektive Leiberfahrung in einem öffentlichen Raum. [6] Die Funktionsweise des Kinos konnte Graham in den frühen Filmen nur durch eine bestimmte Negation bzw. gezielt gegenläufige Erfahrung offenlegen: Weder wird im Kino das Filmen selbst als Aktion vorgeführt noch eine Leibperspektive eingeführt; was das Filmbild im Kino zeigt, wird nicht durch die Sicht einer anderen Kamera relativiert und potenziert und besitzt keinen expliziten Bezug zur Architektur. In seinem »Cinema« von 1981 hat Graham das Thema jedoch von der entgegengesetzten Seite her in Angriff genommen. Die Idee einer optischen Haut in der topologischen Form eines spiegelnden Zylinders wurde von der Filmaufnahmesituation (in »Body Press«) auf die Projektionssituation übertragen – d.h. als Projektionsschirm rekonzipiert – und damit einer architektonischen Neubestimmung zugeführt. Während Graham in seinen frühen Filmen versuchte, psychologische Komplexitäten durch das Stellen einer Aufgabe auszuschließen oder zu reduzieren, hat er in seinem »Cinema« mit vergleichbaren Mitteln versucht, psychologische Komplexitäten herzustellen oder zu forcieren. Intersubjektivität als Multiplizität aufeinander bezogener Blickpunkte wird in seinem »Cinema« nicht in der Korrelation zweier Performer/Kameraleute sinnfällig gemacht, sondern in der Einrichtung zweier Publika. Eine kritische Analyse der Funktionszusammenhänge des Kinos wurde damit nicht mehr außerhalb dieser Funktionszusammenhänge angestrebt, sondern in direkter psychologischer Korrelation mit ihnen.
Graham konnte sich dabei auf eine Filmtheorie stützen, die die Projektionswand im Kino metapsychologisch als »Spiegel« begriff. [7] Der Film wurde nicht länger, wie in der semiologisch orientierten Filmtheorie der 1960er Jahre, für sich (als Text) behandelt, sondern als Teil einer cinematischen Situation, die den Betrachter tiefergreifender beeinflusst, als es der einzelne Film jemals könnte. Mit seinem Essay »Die ideologischen Effekte des grundlegenden cinematographischen Apparates« hat Jean-Louis Baudry 1970 diese Wende der Filmtheorie zur Metapsychologie eingeleitet. [8] Den Begriff des Apparates übernahm er dabei gleichzeitig von Freud und von Althusser. Seine These war, dass in der cinematischen Situation eine effektive Verknüpfung des Apparates der menschlichen Psyche und des ideologischen Staats-Apparates stattfindet.
Verständlich wird Baudrys Argumentation vor dem Hintergrund der phänomenologisch orientierten Filmtheorie der 1950er Jahre. André Bazin hatte die Filmleinwand phänomenologisch als »Fenster zum Universum« und den Realitätseindruck im Kino als eine mystische Epiphanie beschrieben. Wie Baudry erklärt, beruhte die Überzeugungskraft dieser Filmtheorie darauf, dass der »konzeptuelle Apparat der Phänomenologie« und der cinematische Apparat einander genau entsprechen, da in der Phänomenologie theoretisch und im Kino praktisch ein Subjekt vorausgesetzt wird, das als passiver Betrachter und phänomenologisches Zentrum eines Geschehens fungiert, an dem es nicht selbst teilnimmt, für das jedoch ausschließlich seine Wahrnehmung zuständig ist. Der cinematische Apparat verleihe dem Filmbetrachter die Position eines transzendentalen Subjektes und versperre ihm zugleich die Einsicht in den Umstand, dass diese Position etwas Produziertes sei.
Diese Selbstverkennung des Filmbetrachters setzte Braudy (im Anschluss an Althusser) in Beziehung zu Lacans Theorie des sogenannten Spiegelstadiums bzw. dem Umstand, dass das Kleinkind in einem Alter, in dem es seinen eigenen Körper als unkoordiniert und fragmentiert erlebt, im Spiegelbild visuell eine Vorstellung individuellen körperlichen Ganzseins vermittelt bekommt. Das Spiegelbild erscheint ihm alsideales Ego. Die dem Kind zugängliche Identität, seine egologische Subjektivität, leitet sich damit von einem Ort außerhalb seiner selbst her. [9] Für die Filmtheorie entscheidend wurde Lacans Hinweis, dass im Spiegelstadium die Grundlage für alle späteren imaginären narzisstischen Identifikationen gelegt wird. Die Filmleinwand war nicht länger phänomenologisch als ein ›Fenster‹ (oder wie in der formalistisch orientierten Filmtheorie Jean Mitrys als ›Rahmen‹) zu begreifen, sondern in ihrer Beziehung zum Betrachter metapsychologisch als »Spiegel«. [10] Braudy erklärte: »So wie der Spiegel den fragmentierten Körper zu einem imaginären Selbst integriert, vereinigt das transzendentale Selbst die diskontinuierlichen Phänomene gelebter Erfahrung in eine einheitliche Bedeutung. Jedes Fragment erhält Bedeutung dadurch, dass es in eine ›organische Einheit‹ integriert wird«. [11] Lacan war von einem Subjekt ausgegangen, das durch die Erfahrung eines Mangels strukturiert und somit unabdingbar durch den Wunsch nach transzendentaler Einheit, Fülle und Omnipotenz charakterisiert ist. Diesem Wunsch kommt das Kino für Baudry auf einzigartige Weise entgegen, indem es eine Phantasmasierung des Subjektes produziert. [12] Der cinematische Apparat sei dazu bestimmt, verinnerlicht zu werden, um eine Fiktion aufrecht zu erhalten, ohne die der Staatsapparat ideologisch nicht funktionieren könnte: die Fiktion eines autonomen und transzendentalen Subjektes, die – als Selbstkonzept eines Individuums, das sich frei und einzigartig wähnt – mit einer Verleugnung realer gesellschaftlicher Zwänge einher geht. [13] Die einzige Möglichkeit, diese Phantasmasierung zu durchbrechen, bestand für Baudry darin, ihre Produktion offensichtlich zu machen. So erklärte er, jede Demonstration technologischer Mittel sei potentiell ein radikaler Akt. Das Beispiel, an dem er sich orientierte, war Dziga Vertovs Film »Der Mann mit der Kamera« von 1929, der die technischen Bedingungen seiner eigenen Entstehung zum Thema hat; der Film führt den technologischen Apparat als solchen vor, die Kamera, den Montageprozess, den Projektionsapparat und die Bedingungen der Filmbetrachtung im Kino. Zugleich vergegenwärtigt er das Ideal sowjetischer Alltäglichkeit, in der der gesamte Apparat – der sowjetische Staat als solcher – für jeden transparentwäre und die Masse der Bevölkerung die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel hätte. [14] Aufschlussreich ist Baudrys Analyse des »cinematischen Apparates« deshalb, weil sie sich zwar in der Konzeption der Filmleinwand als Spiegel auf Grahams »Cinema« beziehen lässt, jedoch nicht in der vorgeschlagenen Strategie. Diese weist vielmehr historisch zurück auf eine Kinoarchitektur, die Graham selbst als typologischen Präzedenzfall seines »Cinema« anführt: Johannes Duikers »Handelsblad Cineac« in Amsterdam von 1934. Es handelt sich ebenfalls um ein Kinogebäude, das an einer Straßenecke liegt um den Betrachter auf der Strasse Einblick in den Funktionsmechanismus des Kinos gestattet, doch mit dem entscheidenden Unterschied, dass Duiker die Projektionskabine über dem Eingang von außen sichtbar macht, während Graham das Verhältnis des Kinopublikums zum Projektionsschirm in das Zentrum der kritischen Betrachtung stellt. Duikers »Handelsblad Cineac« entspricht offenkundig Baudrys Ideal eines Apparates, der seine eigene Demystifikation durch die Offenlegung technologischer Mittel betreibt. Eine solche visuelle Freilegung der Apparatur wie in Duikers »Cineac« oder Vertovs Film macht jedoch nur Sinn bzw. ist nur dann mehr als eine utopische Metapher, wenn historisch die berechtigte Hoffnung besteht, dass die technischen Produktionsmittel tatsächlich in die Verfügungsgewalt und den Dienst an der Öffentlichkeit gestellt werden. Dass Graham diese Hoffnung nicht teilt, macht u.a. der Umstand deutlich, dass sein »Cinema« als Teil eines Firmen- oder Bürogebäudes konzipiert ist, d.h. einer übergreifenden anonymen Machtstruktur. Aber auch Grahams Konzeption der Filmleinwand als Spiegel ist nicht einfach mit derjenigen Baudrys gleichzusetzen, vielmehr beruft sich Graham auf Metz, der erklärte: »So ist der Film wie ein Spiegel. Doch in einem Punkt unterscheidet er sich grundlegend vom primordialen Spiegel: Denn obwohl alles darin reflektiert werden kann, ist ein einziger Gegenstand von der Reflektion strikt ausgeschlossen: der Körper des Betrachters. In einer gewissen Stellung betrachtet wird aus dem Spiegel plötzlich reines Glas«. [15] Baudry zog aus dieser Kritik den Schluss, dass die Filmtheorie noch hinter das Spiegelstadium zurückgehen müsse, um archaischere Subjektformen für die psychologische Funktionsweise descinematischen Apparates verantwortlich zu machen. [16] Er verwies auf die mütterliche Brust als primordialer »dream screen« und verband damit verschiedene Konzepte zu einem filmtheoretischen Gesamtkonzept: Freuds Analyse der oralen Phase, die Theorie der Traumarbeit und – in reduktionistischer Form – Lacans Theorie des Spiegelstadiums. Während im Spiegelstadium das »Ich« als ein anderer erscheint, mit dem sich das Kind narzistisch identifizieren kann, ist die »dream screen« mit einem Stadium verbunden, in welchem jedes Bewusstsein von Körpergrenzen fehlt, der kindliche Körper und die mütterliche Brust bilden eine undifferenzierte Einheit, weshalb Baudry von einem »Eingehülltsein des Subjektes im Projektionsschirm« spricht, »einem Modus, der dem Spiegelstadium vorausgeht und deshalb in einer Durchlässigkeit fundiert ist, einer Fusion von Innerem und Äußerem«. [17] Da Graham den zylindrisch gebogenen Projektionsschirm – ähnlich wie im »Body Press« – topologisch als »optische Haut« begreift, ergeben sich Korrespondenzen zu Baudrys Analyse. Der Kinobesucher vermag sich im Projektionsspiegel nicht, gestochen scharf zu erkennen, sondern erfährt vor und nach der Filmvorführung buchstäblich sein eigenes »Eingehülltsein in dem Projektionsschirm«: Er nimmt sich als im Raum fließend und durchlässig für andere Körper wahr. Zugleich aber wird diese »Durchlässigkeit des Inneren und seine Fusion mit dem Äußeren« für den außenstehenden Betrachter erfahrbar: dadurch, dass das projizierte Bild nach außen dringt, und zugleich dadurch, dass er durch es hindurch das Publikum im Kino sehen kann.
Indem Graham die metapsychologischen filmtheoretischen Konzepte – der Filmleinwand als Spiegel und als durchlässige »dream screen« – aufgreift und wörtlich umsetzt, schafft er eine völlig neue, von Baudry nicht vorgedachte Situation, in der die private Erfahrung des Filmbetrachters in eine psychosoziale Erfahrung verwandelt ist. Die Position des Filmbetrachters als phänomenologisches Zentrum wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass er als quasi-externer Beobachter den technischen Apparat vor Augen geführt bekommt, sondern dadurch, dass er mit einer Situation konfrontiert ist, die er immer nur einseitig erfassen kann. Was für Baudry der Grund war, theoretisch hinter das Spiegelstadium zurückzugehen– der Umstand, dass der Filmzuschauer in der Filmleinwand als Spiegel seinen eigenen Körper nicht sehen kann –, ist für Graham gerade einer der Gründe, warum er den Spiegel als Projektionsschirm verwendet: Er möchte dem Betrachter am Ende des Films das Bewusstsein seines eigenes Körpers und seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wiedergeben – und zwar gerade auch an dem Ort, an dem er sich zuvor mit der filmischen Illusion und mit den Filmschauspielern identifizieren konnte: auf dem Projektionsschirm.
Die Apparattheorie hatte letztlich keine Antwort auf die Frage, wie die psychologischen Funktionsmechanismen, die sie beschreibt, als solche für die Filmbetrachter einsichtig zu machen waren. Sie orientierte sich an der Vergleichbarkeit der Situation des Filmbetrachters mit der Situation der Gefangenen in Platos Höhlengleichnis und setzte damit zugleich einen idealen, transzendentalen, externen Betrachtungsstandpunkt voraus, von dem aus der ganze Mechanismus in seinen psychologischen Auswirkungen durchschaut werden könne. Grahams »Cinema« ist dieser Vorstellung gerade entgegengesetzt. Es gestattet dem außenstehenden Betrachter zwar Einblick in die »Höhle«, jedoch durch die Projektion des Films auf den Spiegel. Erzielt wird auf diese Weise keine Demystifikation des cinematischen Apparates, sondern im Gegenteil eine gesteigerte, jedoch anders gelagerte Mystifikation, da zwei Wirklichkeiten in irritierender Weise aufeinander treffen. Doch gerade so wird eine kritische Einstellung zu den psychologischen Effekten des Apparates möglich.
Eine entsprechende Strategie hatte in Ansätzen Roland Barthes in seinem Aufsatz »Beim Verlassen des Kinos« von 1975 entwickelt. [18] Er ging von der Beobachtung aus, dass beim Verlassen des Kinos ein komplexer und faszinierender Zusammenprall zweier Wirklichkeiten stattfinde, der es dem Filmbetrachter gestatte, ein kritisches Bewusstsein zu erlangen bzw. wiederzugewinnen. Seine Überlegungen zielten auf die Möglichkeit, das Faszinosum dieses Zusammenpralls auch während der Filmvorführung aufrecht zu erhalten oder in Gang zu setzen. So meinte er, derFilmzuschauer könne sich ein Bewusstsein seines Verhältnisses zur filmischen Repräsentation und Perzeption verschaffen, indem er entweder mit Brechtschen Techniken für sich selbst eine kritische Distanz errichte und seine Faszination für den Film durch die Aufmerksamkeit auf bzw. Erinnerung an »Umgebungen außerhalb der cinematischen Wahrnehmung« breche, dadurch aber auch steigere. Nicht die Vorführung der technischen Apparatur, sondern grundsätzlich nur die Verkomplizierung der Beziehungen zu einer Situation könne dem Betrachter eine kritische Distanz eröffnen – eine Distanz, die nicht auf Enttäuschung basiert, sondern auch einer anders gelagerten Faszination. Was bei Barthes jedoch als das Bewusstseinsspiel eines Intellektuellen erscheint, hat Graham in die Konzeption seines »Cinema« eingebaut. Dieses »Cinema« macht es auch während der Filmbetrachtung möglich, die Aufmerksamkeit auf die »extra-cinematic surroundings« zu richten, da aufgrund der Transparenz der Seitenwände die Stadtlandschaft während der Vorführung sichtbar bleibt. Verkompliziert ist die Situation der Filmbetrachtung zugleich durch das Bewusstsein anderer Betrachter; da in Grahams »Cinema« die »totalizing security of looking at looking« (Stephen Heath [19] ) aufgebrochen ist.
Ähnlich wie Barthes, der in strategischer Rücksicht das »Verlassen des Kinos« zu einer eigenen Instanz der Analyse erklärt hatte, wollte Christian Metz in methodologischer Hinsicht das »Ins-Kino-Gehen« zum Ausgangspunkt einer Analyse des Kinos erhoben wissen. D.h., das Verständnis der »cinematischen Situation« wurde im Anschluss an Baudry insgesamt erweitert, indem die psychologischen Zustände vor und nach der Filmvorführung in die Analyse einbezogen wurden. [20] Der Apparat-Begriff, der von einer unhistorischen und mechanistischen Einstellung zeugte, wurde dabei von Metz durch den Begriff der »cinematic institution« ersetzt, der auf die Unteilbarkeit privater und sozialer Erfahrung verweist und ein historisches Verständnis des Kinos voraussetzt: »Es handelt sich nicht bloß um die Filmindustrie, sondern zugleich um eine mentale Maschinerie, die Betrachter durch Gewöhnung an das Kino historisch verinnerlicht haben und die sie an den Konsum von Filmen angepasst hat: Die Institution ist außer uns und in uns, ununterscheidbar kollektiv und intim, soziologisch und psychoanalytisch. […] Das Kinowird besucht aufgrund eines Begehrens, nicht Widerwillens, in der Hoffnung, dass der Film Vergnügen bereiten wird. […] Die Institution als Ganzes hat ausschließlich filmisches Vergnügen zum Ziel« [21] . Die »Filmwahrnehmung« setzt für Metz nicht erst mit der Filmprojektion ein, sondern ist kulturell zu einem Teil des unbewussten Wahrnehmungs- und Repräsentationssystems geworden, das sich in einer bestimmten konsumistischen Erwartungshaltung bemerkbar macht. Er verweist darauf, dass das Kino zur gleichen Zeit entstand wie die moderne Konsumkultur insgesamt; d.h., gleichzeitig mit der modernen Anzeigenwerbung und der Verlagerung der ökonomischen Organisation von den Produktionsstätten zu den Orten des Konsums. Damit korrespondiert Grahams »Cinema« dadurch, dass der Projektionsschirm sich für den Betrachter auf der Strasse auf derselben Höhe wie die Abfolge der Schaufenster und Werbeflächen befindet und sich scheinbar bruchlos in ein homogenes Arrangement für den Konsum einfügt. Graham selbst hat darauf verwiesen, dass es in den 1970er Jahren üblich wurde, auf Videomonitoren im Eingansbereich von Kinos Filmwerbung zu betreiben. Das Kinovergnügen wurde buchstäblich nach außen verlagert. In seinem »Cinema« scheint er diese Werbestrategie direkt auf die Kinoleinwand übertragen zu haben. Doch sorgt er zugleich dafür, dass nicht bloß der Filmbetrachter beim Verlassen des Kinos eines Zusammenprall zweier Wirklichkeiten erlebt, sondern auch der Passant auf der Strasse, dessen voyeuristischer Blick durch die Projektionswand als Werbefläche in die Tiefe dringt und sich mit dem hypnotischen Blick des Kinopublikums konfrontiert sieht, das eine bestimmte Ware, den Film, anstarrt.
Durch den Begriff des »imaginären Signifikanten« wurde Lacans Subjekttheorie auf andere Weise ins Zentrum der filmtheoretischen Analyse gerückt. Der »cinematische Apparat« wurde nicht als technischer Apparat und nicht als homologe Entsprechung zu frühkindlichen Subjektformen aufgefasst, sondern als »symbolischer Apparat«. Zwar kommt das Symbolische für Metz im Kino nicht seiner eigenen Ordnung gemäß zur Geltung, sondern unterliegt einer »Reinskription« in den Bereich des Imaginären, doch sind mit der Ebene des Signifikanten andere Perspektiven für eine kritische Praxis verbunden. Gefordert wurde keine Offenlegung technischer Mittel, sondern eine entsprechende Offenlegung auf der Ebene des Symbolischen. In seinem Essay »Geschichte/Diskurs – Anmerkung über zwei Arten von Voyeurismus« von 1975 hat Metz versucht, die allgemeinen Bedingungen – zugleich aber die unüberwindlichen Schwierigkeiten – einer solchen Offenlegung zu verdeutlichen: »In den Begriffen Emile Benvenistes ausgedrückt, präsentiert sich der traditionelle Film als Geschichte, nicht als Diskurs. Zwar handelt es sich um einen Diskurs, wenn man ihn auf die Absichten des Filmemachers bezieht, seinen Einfluss auf die Öffentlichkeit usw. Aber seine entscheidende Qualität – und das Geheimnis seines Erfolges als Diskurs – besteht darin, dass er alle Zeichen des Aussagens ausschließt und hinter einer Geschichte verbirgt. Geschichte bezieht sich, wie wir wissen, immer auf ›abgeschlossene‹ Ereignisse; auf diese Weise stellt sich der transparente Film als Erzählung dar, die alles darstellt, und nichts zu suchen hinterlässt«. [23] Die Unterscheidung von »Geschichte« und »Diskurs« hat Benveniste von derjenigen zwischen dem »Ausgesagten« und dem »Aussagen« abgeleitet: Das Aussagen als solches, die Weise, in der ein »Sprecher« auf sich selbst in einer bestimmten Situation verweist und in der er seine Einstellung zu dem Gesagten deutlich macht, wird im Film normalerweise unterschlagen, so dass das »Ausgesagte« als historisches Ereignis in Erscheinung tritt, als etwas, das»an sich« so ist. Die Unterschlagung eines sich positionierenden, sich äußernden Subjekts ist für Metz nicht dem einzelnen Film anzulasten, sondern hängt für ihn engstens mit der Anlage des Kinos selbst zusammen. Diese Unterschlagung zu revidieren, würde bedeuten, zu einem Konzept des Theaters überzugehen, eines Theaters jedoch, wie man es aus der Tradition nicht kennt. Im Theater, erklärt Metz, bestehe eine direkte Entsprechung zwischen dem Exhibitionismus des Schauspielers auf der Bühne und dem Voyeurismus des Zuschauers. Im Kino aber ist alles zeitlich versetzt: Das Geschehen erscheint deshalb als »Geschichte« – nicht als »Diskurs« – und ist auf einen Voyeurismus bezogen, der kein sich äußerndes, als Teil der Situation verstehendes Subjekt, sondern ein leeres, abwesendes Subjekt voraussetzt, eine bloße Fähigkeit zu sehen oder zu halluzinieren. [24]
Die Dichotomie »Geschichte/Diskurs« bzw. »Ausgesagtes« und »Aussagen« wirft ein Licht auf die Anlage von Grahams »Cinema«. Denn dieses stellt sich als ein »theatralischer« Zusammenhang von Situationen dar, in welchen jeder Betrachter – sei es innen oder außen – in jedem Moment auf sich selbst und seine Position als sich für andere präsentierendes, in seinen Blicken äußerndes, aus einer psychischen Disposition heraus sich verhaltendes Subjekt zurückgeworfen ist. Das filmische Konzept einer »story«, die von niemandem erzählt wird und somit als »history« zu verstehen ist, wird auf diese Weise durch das Konzept eines »discourse« überschritten, der sich unvermittelt auf die Rezeptionsbedingungen einer solchen »story« bzw. »history« bezieht.
Gegen Metz’ Filmtheorie wurden verschiedene Vorwürfe erhoben: Er habe Lacans Subjekttheorie nur einseitig aufgegriffen [25] , seine generelle Qualifikation des Films als »history« träfe nur auf eine bestimmte Art von Filmen zu, und schließlich, dass eine linguistisch ausgerichtete Semiologie dem Medium Film letztlich nicht gerecht zu werden vermag. Dieser letzte Vorwurf erwies sich als der am weitesten reichende, da er – recht verstanden – die beiden anderen mit umfasst; er wurde von Gilles Deleuze erhoben und in seiner zweibändigen Theorie des Kinos untermauert. Deleuzehält zwar daran fest, dass die Filmtheorie subjekttheoretisch zu entwickeln ist, macht jedoch geltend, dass der Film keine Sprache sei. Will die Filmtheorie nicht ihren eigenen Gegenstand – die Zeitlichkeit des Bildes im Kino – verfehlen, dann ist sie gehalten, Subjektivität als Zeitstruktur zu begreifen. [26] Zwar erkennt er an, dass mit der Ebene des »Signifikanten« die Dichotomie des Realen und des Imaginären (in der z.B. Baudry noch befangen war) überwunden ist, möchte diese Ebene jedoch durch die »asignifikative Kraft« des »Zeit-Bildes« besetzt wissen. [27]
Deleuzes Theorie des Kinos lässt sich nicht in der gleichen Weise als eine kritische Überarbeitung von Metz’ Theorie des imaginären Signifikanten verstehen, in der dieser seine Theorie als kritische Überarbeitung von Baudrys Apparattheorie entwickelt hatte, da sein Ansatzpunkt ein vollkommen anderer ist. Es liegt ihm nichts daran, metapsychologische und/oder ideologiekritische Konzepte für die Filmtheorie fruchtbar zu machen, da auf diese Weise das Kino nur »von außen« analysiert wird. Deleuzes theoretischer Zugang ist dagegen ein filmhistorischer und zugleich ein philosophischer. Den Ausgangspunkt seiner Analysen bildet die Feststellung, dass nach 1945 ein modernes Kino entstand, das eine radikal veränderte Zeitvorstellung zum Tragen brachte. Das Filmbild war nicht länger als »Bewegungs-Bild« definiert, sondern als »Zeit-Bild«. Bevor jedoch auf diese Bestimmungen näher einzugehen ist, scheint ein Hinweis notwendig, welcher Aufschluss von dieser Unterscheidung in Bezug auf Grahams »Cinema« erwartet werden kann; denn da Deleuze Filme und Zeitvorstellungen analysiert, scheint sich auf den ersten Blick überhaupt kein Zusammenhang feststellen zu lassen. Dieser besteht jedoch einerseits in dem Nachweis, dass die vorausgegangene metapsychologisch orientierte Filmtheorie sich ausschließlich auf Filme des »Bewegungs-Bild«-Typus bezog, und andererseits darin, dass Deleuze das »Zeit-Bild« auf eine allgemeine Struktur hin analysiert, die nicht an die sequentielle Form des Films als Medium gebunden ist, sondern ebenso von Grahams »Cinema« evoziert werden kann. [28]
Unter dem »Bewegungs-Bild« versteht Deleuze ein Bild, das einem allgemeinen sensomotorischen Schema unterliegt und deshalb auch – etwas vereinfacht – als »Aktionsbild« verstanden werden kann; die Frage desBetrachters ist nicht, was das Bild zeigt, sondern, was das nächste Bild zeigt. Die Bilderfahrung ist geprägt durch das Schema von Reiz und Reaktion, Affekt und Aktion. Die Bewegung kann dabei zur metaphysischen »Weltbewegung« überhöht werden, ohne dass die Art der Verkettung der Bilder an irgendeinem Punkt in Frage gestellt würde. Nach dem Krieg entstand jedoch (im italienischen Neorealismus, in der nouvelle vague, im neuen amerikanischen Film u.a.) ein Kino, in welchem das sensomotorische Schema zerbrochen ist. Situationen kommen auf, auf die man nicht mehr reagieren kann; beliebige leere oder abgetrennte Räume breiten sich aus, die keine Fortsetzung in Aktion und Reaktion mehr finden. Es entstehen rein optische und akustische Situationen, in denen die Figuren das, was sie an Aktion und Reaktion einüben, an Hellsicht gewinnen – wobei sie unentschlossen bleiben, bummeln oder sich gleichgültig verhalten zu dem, was mit ihnen geschieht. Die Situation hat ihren Wert nur noch in sich selbst. Die entscheidende Frage ist deshalb für Deleuze, wie sich die optischen und akustischen Bilder verketten, wenn die Fortsetzung in der Aktion nicht zustande kommt. Erinnerungs- und Traumbilder oder Rückblenden (psychisches Gedächtnis) liefern nicht die Antwort, denn sie gehören noch einer sensomotorischen Situation an und sind als virtuelle Bilder an ein aktuelles Bild (der Gegenwart) geknüpft. Erst wenn das aktuelle Bild zugleich als virtuelles Bild in Betracht kommt und »mit dem eigenen virtuellen Bild als solchem in Beziehung tritt«, entsteht das, was Deleuze als »Zeit-Bild« bezeichnet. Eine anfänglich reine Beschreibung verdoppelt sich, wiederholt sich, beginnt erneut, verzweigt sich und widerspricht sich, um ein »zweiseitiges, wechselseitiges Bild« zu konstituieren, in welchem Aktuelles und Virtuelles ununterscheidbar sind und sich in einem fortdauernden Austausch befinden (der Film »Letztes Jahr in Marienbad« von Resnais und Robbe-Grillet ist ein ›didaktisch‹ herausragendes Beispiel dafür). Damit verliert »die Unterscheidung des Subjektiven und Objektiven in dem Masse an Bedeutung, wie die optische Situation oder die visuelle Beschreibung die motorische Handlung ersetzen. Wir haben es hier in der Tat mit einem Unbestimmbarkeits- oder Ununterscheidbarkeitsprinzip zu tun: Man weiß nicht mehr, was imaginär und real, körperlich und mental inder Situation ist, nicht weil man diese Merkmale vermengte, sondern weil man es nicht mehr zu wissen braucht und es keinen Anlass gibt, danach zu fragen«. [29] Durch diese Ununterschiedenheit ergibt sich eine Umkehrung in der Zeitvorstellung: Die Zeit ist nicht mehr das Maß der Bewegung, sondern die Bewegung eine Perspektive der Zeit. Damit entsteht eine Struktur, die Deleuze als »Kristall« bezeichnet und theoretisiert: »Blicken wir in den Kristall, dann nehmen wir nicht mehr den empirischen Verlauf der Zeit als Sukzession von Gegenwarten wahr. […] Was man im Kristall erblickt, ist das direkte Zeit-Bild oder die transzendentale Form der Zeit«. [30] Zugleich entsteht ein neuer Zeichencharakter, den Deleuze als »Hyalozeichen« (von griech. Hyalos Kristall, Glas) bezeichnet und der den Kristall in drei »Koaleszenzen« und Koexistenzen sinnfällig macht: als Austausch von Aktuellem und Virtuellem, von Reinem und Undurchsichtigem und von Keim und Milieu. Es handelt sich um Beziehungen, in denen Bilder ihren eigenen Inhalt anziehen und (als rein optische und akustische Situationen) zum Kristallisieren bringen. Es ist hier nicht der Ort, Deleuzes ›Anwendung‹ dieser Bestimmungen auf bzw. ihre ›Ableitung‹ aus unterschiedlichen Filmen darzulegen. Verwiesen sei nur darauf, dass der Kristall auf unterschiedliche Weise thematisiert und bildhaft sinnfällig werden kann: als vollkommener Kristall (Ophüls), als Kristall, der Risse aufweist und dem etwas entweicht (Renoir), als ein im Keimen begriffener Kristall (Fellini) und als zerfallender Kristall (Visconti). Deleuze spricht in dieser Hinsicht vom Kristallbild – nicht vom Zeit-Bild. Zwar ist das Zeit-Bild das, was im Kristall erblickt wird, doch lässt sich das Zeit-Bild als transzendentale Bestimmung nur auf einer philosophischen Ebene begreifen, die Deleuze in einer Reihe von Bergson- Kommentaren entwickelt – ausgehend von dessen Thesen: »Die Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart; die Vergangenheit bewahrt sich als allgemeine achronologische Vergangenheit; die Zeit teilt sich in jedem Augenblick […] in vorübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit« auf, »die einzige Subjektivität ist die Zeit, die in ihrer Gründung verstandene achronologische Zeit, während wir innerhalb der Zeit sind – und nicht umgekehrt« [31] . Deleuzes Kommentare zielen auf die »Überwindung despsychischen Gedächtnisses in Richtung auf ein Welt-Gedächtnis«, wobei die Zeichen, die darauf verweisen, als »Fazies« benannt werden können.
Unternimmt man den Versuch, Grahams »Cinema« zu dieser Theorie des Kinos in Beziehung zu sehen setzen, dann sieht man sich einerseits auf die Affinität verwiesen, die zwischen Deleuzes Begriff des Kristalls und der Struktur des »Cinema« besteht. So legt Deleuze selbst die Vorstellung des Kristalls als einer architektonischen Struktur nahe, indem er bemerkt: »Austausch und Ununterscheidbarkeit finden in drei Arten des kristallinen Kreislaufs ihre Fortsetzung: im Aktuellen und Virtuellen (oder den beiden gegenüberliegenden Spiegeln); im Reinen und Undurchsichtigen sowie in Keim und Umwelt. […] Noch bevor er ein Amphitheater ist, ist der Kristall Bühne oder besser Arena« [32] . Das »Prinzip der Ungewissheit«, das diesen Austausch leitet, kommt in Grahams »Cinema« in dessen architektonischer Anlage bzw. im Verhältnis zweier Publika zueinander zum Tragen. Dieser Austausch – als Zweiseitigkeit und Wechselseitigkeit desselben Bildes – findet unter der Bedingung einer strikten Inkommensurabilität, die dem klassischen Kino fremd war, statt.
Eine weitere Möglichkeit, Deleuzes Theorie des Kinos auf Grahams »Cinema« zu beziehen, bietet die Konzeption des »Welt-Gedächtnisses«, die Deleuze mit der Frage nach der Wahrheit verknüpft: »Wir stehen nun nicht mehr vor der ununterscheidbaren Unterscheidung zwischen Realem und Imaginären, welche das Kristallbild ausmachte, sondern vor unentscheidbaren Alternativen zwischen Vergangenheitsschichten oder vor ›unerklärbaren‹ Unterschieden zwischen Gegenwartsspitzen, welche nun das direkte Zeit-Bild betreffen. Nicht mehr geht es um das Reale und das Imaginäre, sondern um das Wahre und das Falsche […] die Vergangenheit muss nicht wahr sein« [33] . Ein ganzes Kapitel seiner Kinotheorie hat Deleuze dieser »Macht des Falschen« gewidmet. Um jedoch zu verstehen, wie sich die Frage nach dem Weltgedächtnis und der historischen Wahrheit in Bezug auf Grahams »Cinema« stellt, können nicht einfach Deleuzes Bestimmungen darauf übertragen werden, denn sie bleiben dem Filmmedium verhaftet. DenAusgangspunkt für Grahams »Cinema«-Konzeption bildet vielmehr Benjamins Begriff der Geschichte, den er auf das Kino bezogen wissen möchte. Erst im Zusammenhang damit werden Deleuzes Bestimmungen relevant.
Graham geht davon aus, dass der Film die Macht hat, die Struktur des historischen Gedächtnisses zu verändern. Er verweist auf die Parallelen, die der Filmtheoretiker Thierry Kuntzel zwischen Freuds »Wunderblock«-Modell des Gedächtnisses und der technischen Anlage des Films feststellte: Filme haben den Charakter von »Gedächtnisspuren« oder »Träumen«, die »implantiert« wurden. [34] Sein »Cinema« ist darauf angelegt, eine Begegnung mit dieser Gefahr zu ermöglichen, in der ein gegenläufiger Effekt, d.h. eine andere »Erinnerung«, erzeugt wird. Damit korrespondiert Benjamins »Begriff der Geschichte«: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt« [35] . Voraussetzung dafür sei ein Bewusstsein von »Jetztzeit«, das die Zeit »stillstellt«, so dass das »wahre Bild der Vergangenheit« auf eigentümliche Weise lebendig wird – es »huscht vorbei« und gibt in diesem Augenblick das zu erkennen, was für die Gegenwart unmittelbare Relevanz besitzt: »Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. […] Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Schock, durch den es sich als Monade kristallisiert« [36] .
Deleuze dagegen geht vom modernen Kino als einer »besondere(n) Verbindung von losgeketteten Bildern« aus und fragt nach einem Denken, das in dieser Verbindung entspringt. Dieses Denken wird bestimmt als »eine Macht, die nicht schon von jeher existiert«; es entspringe »einem Außen, das ferner ist als jede Außenwelt, und steht als noch nicht existierende Macht einem Innen gegenüber, einem Undenkbaren oder Ungedachten, das tiefer liegt als jede Innenwelt« [37] . D.h., in der Verbindung der losgeketteten Bilder des modernen Kinos wird dem Denken ein »Weltgedächtnis« zugemutet. Beide, Benjamin wie Deleuze, suchen damit in einem Denken,das »außer sich« ist, das Ungedachte und das Undenkbare der Geschichte, und beide suchen/sehen es im Kristall – als achronologische zeitliche Struktur, die einen Schock in sich birgt. »Wir haben es hier mit dem Nicht-Evozierbaren bei Welles, dem Unentscheidbaren bei Resnais, dem Unerklärlichen bei Robbe-Grillet, dem Inkommensurablen bei Godard, dem Unversöhnlichen bei den Straubs, dem Unmöglichen bei Marguerite Duras und dem Irrationalen bei Syberberg zu tun«, erklärt Deleuze, und allgemein: mit »dem absoluten Kontakt eines nicht totalisierbaren, asymmetrischen Außen und Innen«. [38]
Einen solchen Kontakt erzeugt der Projektionsschirm von Grahams »Cinema« als »irrationaler Schnitt« (Deleuze), der heterogene akustische und optische Situationen und Zeiterfahrungen miteinander korreliert, ohne dass sich die damit erzeugte Spannung in einer Aktion fortsetzen könnte. Bezogen auf die Unauflösbarkeit dieser Spannung erklärt Deleuze: »Ihre Funktion besteht darin, etwas begreifbar zu machen, und im allgemeinen nimmt man an, dass sie etwas Untragbares und Unerträgliches fassbar macht. Dabei handelt es sich nicht um eine überreizte Aggression oder um rohe Gewalt, die sich immer aus den sensomotorischen Beziehungen im Aktionsbild gewinnen lässt. […] Es geht um etwas, was zu gewaltig, zu ungerecht, aber manchmal auch einfach zu schön ist und von nun an unser sensomotorisches Vermögen übersteigt. Es kann eine Grenzsituation sein. […] aber auch etwas ganz Gewöhnliches, eine einfache Fabrik oder ein freies Gelände.« [39] In Grahams »Cinema« – so könnte man sagen – handelt es sich um beides in einem.
Graham hat in »Lectures« über seine Arbeiten darauf verwiesen, dass er in seinen Architekturentwürfen das, was er in seinen »Time-Delay-Rooms« (1974–1976) mit Video und Zeitverzögerung gemacht habe, mit den Medien Spiegel und Glas mache. In beiden Fällen wird ein Jetztzeit-Bewusstsein erzeugt, in welchem inkommensurable Gegenwartsspitzen verbunden sind, so dass ein psychologischer Tiefeneffekt hervorgerufen wird, in welchem Vergangenes unvermutet reaktiviert wird. Dieser Effekt lässt sich nicht allein dadurch begreifen, dass man die Genese und Typologie der Bauformen, auf die sich Graham bezieht, untersucht;vielmehr wird diese »äußere Geschichte« in der geschaffenen Situation in eine »innere Geschichte« zurückgestellt, wo sie als eine Art von Erhabenheit erfahren wird. Die Strukturen des modernen Kinos, wie sie Deleuze analysiert hat, sind in Grahams »Cinema« in architektonischer Form unlösbar mit Konzepten der metapsychologischen und ideologiekritischen Filmtheorie verknüpft, so dass beide eine wechselseitige Forcierung erfahren, die im Dienste einer Geschichtserfahrung steht, wie Benjamin sie beschrieben hat. – Der Filmtheorie der 1970er Jahre wurde in den 1980er Jahren verstärkt der Vorwurf gemacht, ihr »cinema viewing subject« sei eine bloße theoretische Fiktion; es käme darauf an, der Filmtheorie eine empirische Basis zu geben und von realen Filmbetrachtern auszugehen. Es steht zu hoffen, dass dieses Bekenntnis zur Empirie sich nicht der Einsicht verschließt, dass Grahams »Cinema« gebaut werden kann und gebaut werden sollte.
© Medien Kunst Netz 2004