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ThemenFoto/ByteKünstlerische Konzeptionen
Künstlerische Konzeptionen am Übergang von analoger zu digitaler Fotografie
Anette Hüsch

http://mediaartnet.org/themen/foto_byte/kuenstlerische_konzeptionen/

Die digitale Bildbearbeitung hat die Fotografie so stark wie keine vorhergehende technologische Entwicklung verändert. Zwar ist die Idee einer fotografischen Wahrheit und Authentizität bereits seit ihren frühesten Anfängen hinterfragt und unterwandert worden, doch liegt die Qualität der Retusche- und Manipulationsformen herkömmlicher Fotografie weit hinter jenen Eingriffsmöglichkeiten in ein vorhandenes Bild zurück, die durch Computerprogramme wie »Photoshop« angeboten werden. Denn während frühere Manipulationen am Bild zumindest von Experten erkannt werden konnten, sind heutige, digitale Eingriffe nicht mehr nachvollziehbar: Ein digital verändertes bzw. montiertes Bild ist von einer Fotografie nicht mehr unbedingt zu unterscheiden, da die Wege über die digitale Bildbearbeitung wieder auf analoge Formen zurückgeführt werden können. Welches ästhetische Potential das digitale Bild in sich birgt, auf welche Weise es die Vorstellung vom Bild im allgemeinen verändert und welche ethischen Fragen aufgeworfen werden, wird seither diskutiert. Einen frühen und enorm einflussreichen Beitrag zu dieser Debatte hat William T. Mitchell mit seinem Buch »TheReconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era« geleistet, das 1992 erschien. Mitchell, Professor für Architektur und Medienkunst am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge/USA, trennt in seiner Analyse klar zwischen dem fotochemisch entstandenen und dem digitalen Bild. [1] Die von ihm diagnostizierte Verschiedenartigkeit beider technischer Abläufe und der dadurch vollzogene theoretische Abschied von der Fotografie schienen sich zunächst auch im künstlerischen Kontext zu manifestieren.

Drei Jahre nach dem Erscheinen des Buches von Mitchell bot die groß angelegte Ausstellung mit dem Titel »Fotografie nach der Fotografie« einen Überblick über jene Positionen im Kunstkontext, die mit dem Einfluss digitaler Technologien auf die Fotografie umgingen. Die in diesem Rahmen gezeigten Werke Keith Cottinghams, des Künstlerduos Anthony Aziz/Sammy Cucher oder der auch aus der Modefotografie bekannten Künstlerin Inez van Lamsweerde sind inzwischen schon fast als ›Klassiker‹ zu bezeichnen – ebenso wie der gleichnamige Katalog, der bis heute ein Kompendium wichtiger Beiträge zur Umbruchsituation analoger Bildmedien durch den Einfluss digitaler Technologien ist. [2] Die dort versammelten Beiträge machen rückblickend deutlich, für wie elementar der Gegensatz zwischen Fotografie und Neuen Medien gehalten wurde.

Den meisten Autorinnen und Autoren zufolge konnte die ›Fotografie nach der Fotografie‹ – falls sie überhaupt noch als solche wahrgenommen wurde, nur als eine gänzlich veränderte definiert werden. Inwiefern Ähnlichkeiten zwischen analogen und digitalen technischen Mitteln in der Bildpraxis auszumachen sind, wurde weitaus seltener diskutiert. – Doch ist gerade diese Frage bis heute relevant geblieben, und zwar abgesehen davon, ob man die Fotografie für tot erklärt und in der Folge nur noch von ›dem Fotografischen‹ sprechen möchte oder bei dem Begriff der Fotografie bleibt. [3] Denn insbesondere im Kunstkontext ist der Umgang mit elektronischer Bildbearbeitung – eventuell noch stärker als beispielsweise in der privaten Fotografie [4] oder im Journalismus– als eine Fortführung bekannter Strategien zu interpretieren, wie im Verlaufe dieses Beitrags dargestellt werden soll.

Fotografie, digitale Fotografie und Post-Fotografie

Doch wovon wird eigentlich gesprochen, wenn von digitaler Fotografie bzw. Post-Fotografie die Rede ist? Die Begriffe und Kategorien sind im Gebrauch oft unscharf voneinander getrennt, obwohl eine Differenzierung zur Analyse der Bilder notwendig ist. Die gebräuchliche Unterscheidung zwischen analogen und digitalen Medien zeugt von einer begrifflichen Vereinfachung, die im folgenden Text ausschließlich die grundsätzliche technische Verschiedenartigkeit zweier Bildstrukturen bezeichnen wird. So werden ihrer elementaren Materialgebundenheit wegen die Bildmedien Malerei und Fotografie als "analoge Medien" bezeichnet, während mit dem Begriff der "digitalen Medien" jene Technologien angesprochen sind, die binär strukturierte Bilder hervorbringen. Der Begriff der Analogie verdeutlicht in diesem Zusammenhang die grundsätzliche, technische Verschiedenartigkeit der Materialität von Bildmitteln wie Fotografie und Malerei gegenüber dem digitalen Code, meint aber nicht eine Ähnlichkeit zwischen dem Objekt und seiner Darstellung: Während analoge Medien ursächlich mit der Faktizität eines Trägermaterials verbunden sind, kann bei einem Datensatz in den digitalen Medien nicht von einer notwendigen Verbindung zu einem Träger gesprochen werden. Eine weitere, für den vorliegenden Kontext höchst relevante Differenzierung betrifft die Termini ›digitale Fotografie‹ und ›Post-Fotografie‹. Im Gegensatz zur Definition der analogen Fotografie, die in einer unübersehbaren Flut an Literatur immer wieder eindeutig als eine Technik beschrieben wurde, die mittels Licht ein Bild der Außenwelt auf ein fotosensibles Material aufzeichnet, wird die Trennung zwischen Fotografie, "digitaler Fotografie" und "Post-Fotografie" oft sehr viel ungenauer vorgenommen. Denn die Varianten sind vielfältig: Bilder werden digital aufgezeichnet; es wird nachträglich und spurlos in Fotografien eingegriffen, digitale Aufnahmen werden zu einem neuen Bild zusammen montiert – und es gibt solche Bilder, die ausschließlich am Computer generiert wurden und nur noch die Anmutung einer Fotografie besitzen. In diesem nuancenreichen Feld technischer Dispositive lassen sich drei Bildtypen skizzieren: ›analoge Fotografie‹, ›digitale Fotografie‹ und ›Post-Fotografie‹. Oft genugwerden die Begriffe der ›digitalen‹ und der ›Post‹ - Fotografie synonym verwendet, obwohl sie jeweils unterschiedliche Vorgänge beschreiben. [5]

Ebenso wie die analoge Fotografie ist auch die digitale Variante auf den Einfall des Lichts durch ein Objektiv angewiesen. Anders als im analogen Verfahren zeichnen die digitalen Apparate das Licht jedoch nicht mehr auf ein fotosensibles Material auf, sondern speichern es als eine Folge elektronischer Impulse auf einem Chip: Die Filmentwicklung in der Dunkelkammer wird überflüssig. Diese Herstellungsweise lässt sich tatsächlich als "digitale Fotografie" bezeichnen, da zwar der chemische Prozess des Lichtzeichnens durch einen elektronischen ersetzt wird, dieses digitale Verfahren jedoch weiter auf der Einschreibung von Licht beruht. Eine auf solche Weise produzierte Fotografie ist von vornherein in einem Zustand, der keinen direkten materiellen Träger benötigt, lässt man einmal die Hardware des Computers beiseite, und elektronisch leicht manipulierbar ist. Die Bezeichnung ›Post-Fotografie‹ trägt zwei, für die Einschätzung des Mediums entscheidende Aspekte in sich: den Bezug zur Fotografie einerseits und ihre technische Ablösung durch digitale Konstruktionsformen visueller Informationen andererseits. [6] Denn ihr eigentlicher Einsatz beginnt entweder erst nach der Digitalisierung eines wie auch immer gearteten Bildmaterials oder kommt auch gänzlich ohne solche Vorlagen aus. Während zur Technik der herkömmlichen Fotografie das Objekt vor der Kamera unverzichtbar dazugehörte, dient das fotografische Abbild im Prozess des digitalen Bildherstellens höchstens noch als Lieferant von Ausgangsmaterialien. Post-fotografisches Arbeiten ist insofern am ehesten als eine Bildrhetorik zu bezeichnen, die mittels bestimmter Software am Computer im extremsten Fall solche Bilder entwerfen kann, die optisch nicht mehr von einer Fotografie zu unterscheiden sind. Sie entstehen zwar auf technisch vollkommen andere Weise als eine Fotografie, folgen jedoch (manchmal überexakt) unseren Wahrnehmungskonventionen.

In der digitalen Nachbearbeitung, die noch als Form der Retusche vorstellbar ist, werden Verfahren der Collage und Montage wichtig, wenn durch Additions- und Subtraktionsverfahren Teile einer Fotografieentfernt oder hinzugefügt sind – oder das Bild durch diesen Prozess überhaupt erst entworfen wird. Das elektronisch arrangierte Kompositbild lässt sich nach den Montagetechniken in Malerei und Fotografie als eine ›Montage dritten Grades‹ bezeichnen, in der die Ausgangsmaterialien, ähnlich wie in einer Papier- oder Fotocollage, ihren autonomen Status verlieren und in der Kombination mit anderen zum Teil eines neuen Bildes werden. Auch in seiner dritten Art bleibt das Prinzip der Montage eine zweidimensionale Technik der Oberfläche, die ursprungslos in gleich bleibender Qualität Bilder produzieren kann, weil sie nicht mehr von etwas Visuellem abhängt, sondern auf einer veränderbaren Rechenstruktur basiert. Das neu entstandene fotografisch anmutende Bild ist dann nicht mehr die Abbildung eines Gegenstandes, sondern simuliert lediglich die Repräsentation eines solchen. Die Simulation bezeichnet hier insofern einen Nachahmungsvorgang, der eine analoge Fotografie vortäuscht und damit unseren an Fotografie und Kinematografie geschulten Sehgewohnheiten folgt.

Die Rezeption dieser digitalen Konstruktionen hängt vom Wissen über ihren Herstellungsweg ab: erst die Identifikation simulierter Fotografien als digitale Konstruktionen lässt eine weiterführende Untersuchung der Bilder zu. In diesem Feld technischer und ästhetischer Abhängigkeiten, innerhalb dessen sich jenes ›Fotografische‹ zeigt, um das es hier gehen soll, nimmt der künstlerische Kontext eine ganz besondere Funktion ein. Denn er ist das Experimentierfeld, der Bereich kritischen Potentials, in dem die technisch rasante Entwicklung, die massenmediale Bilderflut und die dadurch entstehenden Veränderungen im allgemeinen Bildverständnis begleitet, hinterfragt und konterkariert werden.

Die Nische der Kunst

Ebenso, wie die Malerei als Reaktion auf die Fotografie für tot erklärt wurde, ist 150 Jahre später auch die Fotografie als Reaktion auf die Neuen Medien verabschiedet worden – weil deren angebliche Authentizität nun vollständig unterwandert werden würde. Doch was diese angenommene Glaubwürdigkeit denn ausmache, ist nie unumstritten gewesen. Bereits kurz nach der Erfindung der Fotografie im19. Jahrhundert wurden jene ›Echtheit‹ und ›Objektivität‹ in ganz unterschiedlichen Bedingungen des fotografischen Bildes vermutet. Mal wurden diese in dem technischen Ablauf der Bildherstellung wie in Henry Fox Talbots »Pencil of Nature« (1844 - 1846), mal gerade nicht im Bild selbst, sondern in dem subjektiven Wahrnehmungsprozess wie in P. H. Emersons »Naturalistic Photography« (1889) gesucht. Andererseits montierte, karikierte oder unterwanderte man eine vermeintliche Authentizität gänzlich, wie der Künstlerfotograf Oscar Rejlander bereits in den 1850er Jahren in seinen Fotocollagen, den sogenannten »combination printings«, die den Kunstanspruch der Fotografie belegen sollten. [7]

Die kritischen Reflexionen und spielerischen Erprobungen eines wie auch immer gearteten Echtheitsbegriffs sind ebenso wie solche Legitimationsstrategien der Fotografie als künstlerisches Medium auch in der Fotografie der Gegenwart zu finden. Die elektronischen Medien stellen in diesem Zusammenhang eher eine Erweiterung bereits existierender Inszenierungs- und Manipulationsformen dar. Das unterscheidet den Kunstkontext deutlich von all jenen Bereichen fotografischer Bildproduktion, in denen zwar ebenfalls Manipulation und Retusche von jeher Bestandteil der Bildpraktiken waren, diese aber unterdrückt und verschwiegen wurden, da der Glaube an den Realitätseffekt der Fotografie als konstitutiver Bestandteil der Bildrezeption gegolten hatte und immer noch gilt. Denn obwohl insbesondere die Fototheorie der letzten Dekaden immer wieder den utopischen Charakter einer rein reproduzierenden Bildherstellung untersucht und analysiert hat, ist der Glaube an das Abbild elementarer Bestandteil des Erfolges der Fotografie gerade im Journalismus oder der Kriminalistik. [8] In diesen Arbeitsfeldern ist die Rolle des fotografischen Bildes weitaus stärker erschüttert worden, weil es inzwischen, wenn überhaupt noch, nur sehr begrenzt als Beleg für Ereignisse dienen kann, indem es eine Autorisierung durch Dritte erhält und dann als glaubwürdig akzeptiert wird. [9] Und genau diese Funktion der Authentifizierung hat die künstlerische Fotografie ohnehin immer wieder hinterfragt, da sie, anders eben als in der Presse oder der juristischen Ermittlung, nie vordergründig als Beleg von Ereignisseninstrumentalisiert wurde, sondern vor allem Wahrnehmungsformen, Bildpraktiken und ihren Bezug zur Wirklichkeit reflektierte.

Zur Rolle von Realismus und Inszenierung

Seit einigen Jahrzehnten werden Fotografien zu hohen Preisen auf dem Kunstmarkt gehandelt. Daran haben auch die jüngsten digitalen Eingriffsmöglichkeiten nichts geändert. Sie sind inzwischen integrierter Bestandteil einer Bildproduktion, die weiterhin mit fotografischem Ausgangsmaterial umgeht und deren Ergebnisse immer noch als Fotografien bezeichnet und gehandelt werden. Auch die klassischen Themen wie Körper und Porträt, Landschaft und Architektur, die schon die analoge Fotografie von der Malerei übernahm, gehören weiterhin zu den zentralen Inhalten. Die Interpretation dieser Genres der Bildgeschichte oszilliert in der zeitgenössischen, künstlerischen Fotografie zwischen den begrifflichen Polen von Realismus und Inszenierung. Und das obschon beide Termini zunächst gerade in Hinblick auf die Fotografie Gegensätzliches zu bezeichnen scheinen: Realismus gilt im allgemeinen als Ausdruck der abbildenden, indexikalischen Qualität der Fotografie, die unterschiedslos all jenes aufzeichnet, was vor ihrer Linse visuell stattfindet; und andererseits die Inszenierung, die den Eingriff einer Autorin/eines Autors und die planvolle Anordnung einer Szene bezeichnet. Im Falle von digitalen Montageverfahren und elektronischen Arrangements zeigt sich nun Realismus als Ergebnis und Form einer Inszenierung besonders deutlich: Viele der im Folgenden benannten Beispiele sind von einem realistischen, manchmal dokumentarisch anmutenden Charakter – der doch nur durch das vollständige Arrangement der Szene zustande kommt.

Jeff Wall

Die Arbeiten des Fotokünstlers Jeff Wall wurden frühzeitig mit dem Begriff der ›inszenierten Fotografie‹ belegt, lange vor der Entwicklung der digitalen Fotografie und elektronischer Simulationstechniken. Wall ist seit dem Ende der 1970er Jahre zu den wichtigsten Fotokünstlern der Gegenwart zu zählen. Der Kanadier, der neben seiner künstlerischen Ausbildung auch ein kunsthistorisches Studiumabsolvierte, etabliert ein Verweissystem in seinen Bildern, innerhalb dessen er tradierte Themen zitiert und ein komplexes Zusammenspiel von visuellen und psychologischen Inszenierungsformen mit technischen Umsetzungsmodalitäten konzipiert. Wall rekurriert auf klassische Kompositionsmuster der Kunst und reflektiert mediale Ähnlichkeiten zwischen Fotografie, Malerei und Film. Seine Bilder, die in monumentalen Formaten alltägliche und auf den ersten Blick gänzlich unspektakuläre Szenen zeigen, werden meistens als Cibachrome Diapositive in hinterleuchteten Schaukästen präsentiert. Wall tritt mittels der Fotografie als ein ›Maler des modernen Lebens‹ auf, der fragmentarische Ausschnitte zunächst belanglos wirkender Szenen produziert, in denen er gleichermaßen kunsthistorischen Themen und soziale Fragen aufgreift. Indem er sich auf den Realismus Eduard Manets im speziellen und des 19. Jahrhunderts im allgemeinen bezieht, substituiert er die Malerei als Medium des Realismus durch die Fotografie – die dadurch sozusagen zur Malerei der Gegenwart erklärt wird. Walls Realismus’ schließt jegliche, dem fotografischen Verfahren inherente Zufälligkeit aus. Die Bilder sind bis in das letzte Detail arrangiert, nichts bleibt dem Zufall überlassen. Anders als eine dokumentarische Fotografie, die auf den entscheidenden Moment wartet und ihn ohne weiteres Arrangement aufnimmt, bewegt sich Wall ganz in der Tradition des Realismus als Zurschaustellung des Exemplarischen, das per se immer schon inszeniert ist.

Wie ein Regisseur mit Kameramann steht Wall nicht unbedingt selbst hinter der Kamera, sondern leitet die Produktion seiner Bilder. Lange Zeit inszenierte er vor allen Dingen das Bild vor der fotografischen Aufzeichnung, wandte sich aber in den 1990er Jahren auch der digitalen Manipulation von Bildern zu und nutzte sie zur Montage und Nachbearbeitung. So arrangierte er das Bild »Dead Troops Talk« von 1992 im Studio und nahm es in einzelnen Teilen auf, die später digital montiert wurden und im Ergebnis eine monumentale Außenaufnahme simulieren. Wall geht es weniger um die Nachvollziehbarkeit und direkte Identifikation drastischer Eingriffe, als um die Schöpfung der angedeuteten komplexen Bezugssysteme. Für deren Gelingen bedient derKünstler sich inzwischen auch elektronischer Eingriffsmöglichkeiten, die er jedoch lediglich als technische Erweiterungen des bereits vorhandenen Repertoires betrachtet: »The picture is a relation of unlike things, montage is hidden, masked, but present, essentialy. I feel that my digital montages make this explicit, but that they’re not essentially different from my ›integral‹ photographs.« [10]

Andreas Gursky

Der ehemalige Student von Bernd Becher und international erfolgreichste deutsche Fotokünstler, Andreas Gursky, ist wie Wall an der Beziehung zwischen Malerei und Fotografie interessiert. Seine ebenfalls großformatigen Bilder sind fotografische ›Verdichtungen‹ visueller Realitäten, die er inszeniert und digital nachbearbeitet. Gursky interessiert sich für ornamentale Strukturen und das Wechselverhältnis von Architektur und sozialem Gefüge, in dem der Mensch zum Teil einer anonymisierten, standardisierten Masse wird – so zum Beispiel in dem Bild »Montparnasse«. Das mehrstöckige und außerordentlich breite Gebäude war schlichtweg zu groß, als dass es auf einmal hätte fotografiert werden können. Deshalb machte Gursky zwei Aufnahmen davon, die er digital so zusammensetzte, dass das montierte Bild wieder wie ein einziges Foto aussieht. Wie in einem Vexierbild werden zwei Betrachtungsebenen angeboten: Aus einiger Entfernung erscheint die Fassade als flache, ornamentale und leblose Struktur, die bei näherer Betrachtung Personen, Mobiliare und Handlungen hinter den Fensterscheiben erkennen und die strenge Fassadengliederung lebendig werden lässt.

Gursky setzt elektronische Bearbeitungsmöglichkeiten aber nicht nur für solche Montagen von Fotovorlagen ein. Er akzentuiert auch Form- und Flächenverhältnisse neu zueinander. So auch in dem sehr farben- und detailreichen Bild »Chicago Board of Trade« von 1999. Gursky hat in die Abbildung des regen Treibens an der Chicagoer Börse so eingegriffen, dass es neben überaus detailreichen Bildpartien auch andere gibt, die sich durch Unschärfe förmlich in reine Bewegung aufzulösen scheinen. Dieses Spiel von ›bewegten‹ und ›unbewegten‹ Zonen rhythmisiert und irritiert den Blick gleichermaßen, da der dokumentarische Charakter einerseits betont undandererseits über die Neujustierung von Schärfe und Unschärfe aufgelöst wird. Gursky reflektiert die Abbildfunktionen des Mediums, ohne den Bildern eine fotografische Authentizität zuzusprechen.

Abgesehen von den jeweils verschiedenen Themen und Strategien in den Bildern, untersuchen beide, Gursky und Wall auf grundsätzliche Weise das Verhältnis von Schein und Wirklichkeit, Wahrheit und Arrangement. In diesem Zusammenhang bedienen sie sich auf je spezifische Weise des gesamten Repertoires zeitgenössischer Fotografie. Die umfassende Planung der Wall’schen Bilder, in denen jede Form des Zufälligen eliminiert ist, führt ebenso wie Gurskys subtile Eingriffe in das fotografierte Bild zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Realismus und Inszenierung im Zeitalter digitaler Simulation; die beiden Positionen stehen damit exemplarisch für eine wichtige Tendenz in der zeitgenössischen Fotografie.

Körperbilder, Bausteine und Datensätze

Als subtil lassen sich jene Eingriffe, die an Porträts und Körperbildern in den 1990er Jahren vorgenommen wurden, nur selten bezeichnen. Die Parallele von elektronischer Bildbearbeitung und der Entschlüsselung des Genoms führte zu Bildern, in denen der Körper als veränderbares Material, als Instrument zukünftiger Experimente und als Projektionsfläche variabler Identitätsvorstellungen interpretiert wurde. Unsicherheiten im Umgang mit Begriffen wie Subjekt und Körper wurden ebenso zur Schau gestellt wie die Artikulation einer fundamentalen Kritik an gentechnisch Machbarem. [11] (Post-)fotografische Körperbilder scheinen sich, da sie noch in die Anmutung eines fotografischen Bildes gekleidet sind, auf einzelne Individuen und ihre je spezifische Körperlichkeit zu beziehen – obwohl sie keine Abbilder, sondern eher Visionen sind. In diesen drastisch veränderten Bildern gilt die Faktizität der Fotografie offenkundig nicht mehr, tritt aber dennoch merkwürdig überdeutlich in Erscheinung.

Porträts ohne Modell

Das Individualporträt wird mittels elektronischer Bearbeitungen zum entpersonifizierten Bild von Typen, Masken und Projektionen möglicher Antlitze. Nancy Burson stellte schon in den frühen 80er Jahren Kompositbilderher, die sie aus den fotografischen Porträts einzelner Personen zu einem bestimmten Typus zusammensetzte. Ihre Phantombilder der Serie »Big Brother« sind das Ergebnis von Überlagerungen der Porträts verschiedener Diktatoren des 20. Jahrhunderts, die aus den Aufnahmen einzelner Individuen ein Bild des Diktatorischen schlechthin machen. Würde der Betrachter nicht über die Herstellungsweise der Bilder aufgeklärt, hielte er sie für herkömmliche, wenn auch nicht besonders scharf aufgenommene, fotografische Porträts, die der Ästhetik von polizeilichen Fahndungsfotografien ähneln.

Weitaus perfekter in der fotografischen Anmutung sind die farbigen, gestochen scharfen Simulationen »Fictitious Portraits« von Keith Cottingham. Die aus verschiedenen Vorlagen konstruierten Bilder eines halbwüchsigen Jungen gleichen in ihrer Materialität vollständig jener von herkömmlichen Fotoabzügen. Denn in diesem Falle mündet der Weg der digitalen Herstellung wieder auf den eines analogen fotografischen Bildes. Neben den fließenden intermedialen Grenzen, die nicht immer für den Betrachter oder Benutzer erkennbar sind, greift Cottingham auf einen Stil, ein Sujet und einen Bildbegriff zurück, der mit der Geschichte des Tafelbildes und der der Fotografie eng verknüpft ist. Seine drei fiktiven Bildnisse, die an gemalte Tafelporträts, unter anderem auch an die Variante des Tripleporträts anknüpfen, sind in Größe und Stil identisch. In schwarze Rahmen nebeneinander an die Wand gehängt, schienen sie im Kontext der genannten Ausstellung »Fotografien nach der Fotografie« zunächst vollständig herkömmlichen Fotoabzügen zu gleichen – und stellen gleichzeitig das vermeintlich Fotografische radikal in Frage. Von der Fotografie im Sinne eines mittels Licht aufgezeichneten Abbildes der Wirklichkeit ist hier nicht mehr viel übrig – es werden lediglich über die fotografische Anmutung Wahrnehmungs- und Kunsttraditionen aufgegriffen. Während Cottingham Simulationen anfertigt, geht Thomas Ruff mit den »Nudes« seit 2001 einen umgekehrten Weg. Der Studienkollege Andreas Gurskys bedient sich der im Internet benutzten, so genannten ›thumbnails‹, jener daumennagelgroßen Bilder, die den Download eines größeren Formats anzeigen. Ruff hat solche ›thumbnails‹ pornographischer Bilder herunter geladenund sie auf Tafelbildformat gebracht. Die geringe Auflösung der Bilder lassen diese in der enormen Vergrößerung zu malerischen, unscharfen Bildern werden. Fragen nach Autorenschaft und Kunstcharakter, nach Aneignung fremden, kommerziellen Materials, künstlerischer Innovation und Tauglichkeit auf dem Kunstmarkt sind hier auf die Spitze getrieben.

Deformierte Gesichter und verdrehte Körper haben Yvonne Volkhart in ihrem Beitrag zum Medienkunstnetz von ›monströsen Körpern‹ sprechen lassen (vgl. Yvonne Volkhart: Monströse Körper) die beispielsweise in den Porträts von Anthony Aziz und Sammy Cucher oder den manipulierten, großformatigen Hochglanz- Bildern der Niederländerin Inez van Lamsweerde zu sehen sind: »The Dystopia Series« (1994) von Anthony Aziz und Sammy Cucher führen die perfekte digitale Retusche als eine abstoßende Manipulation in ihren Bildern offensichtlich vor. Ihre Porträts halten alle Formalia ein, die den Betrachter diese als Fotografien wahrnehmen lassen. Die Gesichter sind jedoch entmenschlicht, unfähig Sinneseindrücke zu empfangen und zu kommunizieren, da die Öffnungen ihrer Augen, Nasen, Münder und Ohren wegretuschiert sind und das Gesicht seiner Sinnesorgane beraubt, schiere Lebensunfähigkeit demonstriert. Inez van Lamsweerde zeigt einzelne Personen – oder besser Figuren – wie »Sasja« und die Männer aus der Serie »The Forest« vor einem weißen, neutralem Hintergrund. Die Formalia herkömmlicher Modefotografie, das geschminkte puppenhafte Auftreten der Figuren und die kühle Hochglanzästhetik hat van Lamsweerde eingehalten – diese Klischees jedoch im wahrsten Sinne des Wortes verdreht. Zum Teil sind ihre Körperbilder hybride Kombinationen aus Männern, Frauen und Kindern, die in ihrer körperlichen Anmutung irritieren: Männer sind mit Frauenhänden versehen, Kinder mit männlichen Kiefern. Die fotografierten Personen werden zu hybriden Gestalten. Ihre Ambivalenz macht sie zu modernen Ikonen oder gar Fratzen des westlichen, hoch zivilisierten Daseins.

»Ich ist eine andere«

Auf ganz andere Weise beschäftigen sich auch die folgenden Fotografinnen mit dem Körper. Sie reflektieren persönliche Identität an sich, für die diekörperliche Erscheinung im Bild lediglich ein Ausdruck ist. Vibeke Tandberg oder Mitra Tabrizian bedienen sich zwar auch digitaler Eingriffsmöglichkeiten in das fotografische Bild, stellen allerdings diese Prozesse weitaus weniger zur Schau als jene eben vorgestellten Künstlerinnen und Künstler, die sich explizit mit der Post-Human-Debatte auseinandersetzen. In den folgenden Bildern geht es weniger um drastische Körperlichkeit, als vielmehr um zwischenmenschliche Kommunikationsprozesse und die Definition der eigenen Person. Die Norwegerin Vibeke Tandberg thematisiert in ihren aktuellen Arbeiten Identität und Geschlechterrollen, indem auch sie mittels elektronischer Eingriffe ihren Körper verdreht und Gliedmaßen verkürzt. Anders als beispielsweise Lamsweerde, interveniert Tandberg in der Serie »Undo« am Bild ihrer selbst, hochschwanger, und übertreibt die Proportionen dieser Körperlichkeit. Parallel stellt sie sich selbst in der Serie »Old man going up and down a staircase« als einen älteren Mann dar und setzt die Schwerfälligkeit ihres schwangeren Körpers indirekt mit der nachlassenden Bewegungsfähigkeit eines älteren Menschen gleich. Ebenso wichtig wie solche Deformationsstrategien sind im Kontext der Befragung des Subjekts auch Additionsverfahren.

Bettina Hoffmann inszeniert scheinbar alltägliche Szenen zu den »affaires infinies« (1997-1999), in denen sie sich selbst ähnlich wie Tandberg zur alleinigen Protagonistin macht und sich, dem Diktum Rimbauds folgend, immer wieder als ›eine andere‹ darstellt. Obwohl es sich um Situationen mit mehreren Personen handelt, kommuniziert Hoffmann letztendlich ausschließlich mit sich selbst. Auf ganz andere Weise als Cottingham bedient auch sie sich der Möglichkeiten elektronischer Montage und Verdoppelung, indem sie von fotografisch entstandenem Ausgangsmaterial ausgeht und dieses am Computer neu zusammenfügt. Ihre Inszenierungen alltäglicher Szenen konzentrieren sich dabei auf jene Momente, die einer eigentlichen Handlung vorausgehen. Ebenso wie Bettina Hoffmann, die unter anderem mit Film und Video arbeitet, bedient sich auch Mitra Tabrizian verschiedener Medien. In ihren Arbeiten kombiniert sie dokumentarische Bildsprache und Werbeästhetik, um auf die ideologischen Unterströme jedweder kulturellerIdentitätsbildung aufmerksam zu machen. Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall beschreibt Mitra Tabrizians Arbeiten als »fictive visual spaces«, die durch das Zusammenspiel von statischer Fotografie und Referenzen auf kinematografische Bilder entstünden. [12] Manchmal sind Bezüge zu kinematografischen Szenen zu erkennen, wie beispielsweise zwischen Tabrizians »The Perfect Crime« und der Ästhetik von Takeshi Kitano oder Quentin Tarantino-Filmen.

Allerdings überträgt die Künstlerin nicht einfach solche Zitate auf ihre eigene fotografische Bilderpraxis, sondern erweitert Kontexte und steigert Vorstellungen von Gender und Gewalt. Ihr »Beyond the Limits«– Projekt von 2000 erinnert durch bizarre Handlungen und überzeichnete, grelle Farben an der Bildsprache von Comics oder Karikaturen. So lebhaft die Farben, so dramatisch die Handlung aber auch immer sein mag, die Protagonistinnen und Protagonisten in Tabrizians Bildern sind von einer irritierenden Emotionslosigkeit geprägt: eine Frau lässt ein Baby fallen, ein Mann schießt sich in den Kopf. Alles ist klar erkennbar, auch die völlige Starre der Abgebildeten – sie scheinen weniger Menschen, denn artifizielle, emotionslose Cyborgs oder Avatare zu sein.

Architektur und Landschaft

Neben der Auseinandersetzung mit dem Bild vom Menschen gehören Architektur- und Landschaftsfotografie seit jeher zu den zentralen Genres der Bildgeschichte, die auch in der gegenwärtigen künstlerischen Bildpraxis zentrale Inhalte sind. Auf den ersten Fotografien waren oft Gebäude zu sehen – deren Abbildungen gleichermaßen Erstaunen und Euphorie auslösten. Der Auspruch des Literaten Jules Janin, der 1839 das Atelier Jean Louis Mandé Daguerres besuchen konnte, ist längst Legende. Janin war so begeistert von der Daguerreotypie, dass ihm eine Differenzierung zwischen dem realen Gegenstand und dessen Abbild schlichtweg obsolet zu sein schien. Er feierte eine Fotografie von Notre-Dame als deren vollständiges Substitut, da diese sich quasi materiell in die fotosensible Oberfläche der Kupferplatte geschrieben habe und die Fotografie als Simulakrum an die Stelle des Objektes getreten sei. [13]

Form und Fläche – oder: was ist das Bild der Architektur?

Die künstlerische Architektur- und Landschaftsfotografie der Gegenwart hinterfragt über die Stilisierung ornamentaler Strukturen sowie serieller Ordnungsprinzipien unsere Wahrnehmung und Vorstellung von urbanem Raum, Natur und Landschaft.

Wie bereits im Abschnitt »Realismus als Inszenierung« angesprochen, hat Andreas Gursky über digitale Manipulationen Raumkonzepte und Flächen so akzentuiert, dass der Eindruck einer Dokumentarfotografie noch intensiviert wird. Die Klarheit und Tiefenschärfe der Bilder lässt den Betrachter eine handwerklich äußerst perfekt ausgeführte Fotografie – ob analog oder digital aufgenommen – assoziieren. In seiner ersten digital nachbearbeiteten Fotografie »Charles de Gaulle« verstärkt und verdichtet Gursky visuelle Eindrücke urbaner Strukturen, indem er die Komplexität der räumlichen Situation mit ihren röhrenartigen Verbindungswegen um ein Vielfaches steigert: Im Bild erscheinen mehr Röhren als tatsächlich vorhanden sind. Dadurch entsteht zwar der Eindruck einer Abbildung realer Architektur – die gleichzeitig jedoch in der verwirrenden, ornamentalen Struktur des Bildes dem Blick keinen Halt mehr bietet und die scheinbare Abbildhaftigkeit aufhebt.

Die in Berlin lebende Künstlerin Heidi Specker setzt sich mit dem Verhältnis von Baukörper und Materialität auseinander und greift dabei die Bildsprache der Neuen Sachlichkeit auf. Specker untersucht moderne Architekturen, vornehmlich jene des ›internationalen Stils‹ der 1960er und 1970er Jahre. Diese Aufnahmen bearbeitet sie, wie beispielsweise in ihrer Serie der »Speckergruppen Bildings« von 1996 digital nach. Der Begriff ›Bildings‹ setzt sich aus ›Bild‹ und ›Buildings‹ zusammen und charakterisiert Speckers Arbeitsweise: Sie ist einerseits an der Herausforderung interessiert, der sich die analoge Fotografie durch die Computertechnologie gegenüber sieht, und beschäftigt sich andererseits mit Bildern von Baukörpern. Specker fotografiert Gebäude oder bauliche Details, um diese anschließend einzuscannen und zu bearbeiten: Details wie Schatten und Tiefenwirkungen sind zugunsten einer flächigen Struktur nahezu eliminiert. Da die Ergebnisse schließlich auf einem Tintenstrahldrucker ausgegeben werden, simulieren die Arbeiten nichteinen herkömmlichen Fotoabzug, sondern geben ihren Herstellungsweg, zumindest teilweise, frei.

Jörg Sasse geht gleichermaßen mit Architektur- wie mit Landschaftsaufnahmen um, allerdings inzwischen vornehmlich mit anonymen Bildern. Er sammelt seit Jahren private Fotos, Schnappschüsse ganz unterschiedlicher Situationen, bearbeitet diese Fotografien am Computer nach und lässt sie anschließend erneut zirkulieren. – Dann jedoch nicht mehr als private Bilder sondern im Kontext der Kunst (siehe hierzu auch das Podiumsgespräch mit Jörg Sasse). [14] Durch seine anschließenden ›Arbeiten am Bild‹ (so auch der Titel einer seiner Kataloge) verlagert Sasse den Bedeutungsschwerpunkt der Fotografien. [15] Er betitelt seine Bilder lediglich mit einer vierstelligen Ziffernkombination und dem jeweiligen Entstehungsjahr, also des Jahres, in dem das vorgefundene Material von ihm nachbearbeitet wurde. Diese Arbeiten bewegen sich auf der Schnittstelle zwischen Fotografie und Malerei. So wird in »9137, 2004« eine bunte Bühneninszenierung derart verändert, dass sie sich in Farbfelder aufzulösen scheint und an die dramatischen Lichtverhältnisse, die starken Kontraste zwischen dunklen und hellen Bildzonen barocker Tafelmalerei erinnert. Das rote Haus im Wald wird in »8626, 1999« zu einem übergroßen Objekt, dessen enorme Farbintensität in einem starken Kontrast zum dunklen Grün des Waldes steht und die schlichte Szene surreal anmuten läßt. Auf andere Weise spielt auch der amerikanische Künstler Paul Pfeiffer mit dem Vermögen kollektiver Erinnerung. In seiner Serie »Landscapes« von 2000 blickt der Betrachter auf eine Strandlandschaft: gleißendes Licht, die Wellen brechen sich. Man muss diese auf den ersten Blick gewöhnlichen Landschaftsbilder schon eine Weile betrachten, bis sich wortwörtliche Spuren von etwas anderem, einer weiteren Ebene, finden lassen: Es scheint, jemand wäre im Sand gelaufen. Dass diese Bilder Teile einer bekannten Porträtserie sind, nämlich der Aufnahmen Marilyn Monroes von George Barris, wird kaum jemand entdecken: Pfeiffer hat die Ikone Monroe aus den Bildern entfernt und an die Stelle ihres Abbildes die Landschaft geschlossen – also die gerissene Wunde vernäht. [16] Die Natur, vorher Kulisse für den Filmstar, eine so unspektakuläre immerhin, dass wir sie nicht wieder erkennen, wenndie Monroe nicht mehr dort steht, wird nun zum Bildinhalt, wenigstens zum vordergründigen. Tatsächlich geht es aber Pfeiffer nicht nur darum aufzuzeigen, wie ausschließlich der Wiedererkennungswert des Bildes an die Gestalt Monroes gebunden ist. Er thematisiert auch Landschaftsvorstellungen an sich, das Klischee der Meeresansicht und die Rolle von Natur in der Inszenierung eines Stars, der selbst ein Klischee ist.

Klischee und Wirklichkeit, Wahrheit und Schein

Solche und ähnliche Dekonstruktionen von Klischees, wie Pfeiffer sie in seinen Arbeiten anklingen lässt, sind ein originäres Ansinnen zeitgenössischer Fotografie – das Entlarven der Konstruiertheit von Authentizität und Objektivität und die Frage, in welcher Beziehung Schein und Wirklichkeit zueinander stehen. Dabei gehen die Künstlerinnen und Künstler mit analogen, digitalen und (post-) fotografischen Techniken um – je nachdem, welches Mittel gerade geeignet erscheint. Anders als der gelegentlich äußerst plakative Einsatz elektronischer Retusche und Simulationsformen Mitte der 1990er Jahre, ist inzwischen das Interesse an subtilen Interventionen am Bild größer, die den Betrachter irritieren, fotografische Kompetenzen überspitzen und die Frage nach der Differenzierung zwischen Realität und Bild neu formulieren. Der ontologische Status der Fotografie kann in Zeiten digitaler Simulationstechnologien sowieso keine zentrale Rolle mehr spielen kann, da sich das Verhältnis und die Abgrenzung zwischen nicht-manipulierten, manipulierten und simulierten Bildern mit fotografischer Anmutung nicht mehr eindeutig zu klären ist. Indem die zeitgenössische Fotografie im Kunstkontext klassische Themen der bisherigen Bildgeschichte aufgreift und neu interpretiert, macht sie aber einmal mehr deutlich, in welchem paradoxen Sinne wir Bilder, vor allem technisch produzierte, wahrnehmen und wie stark wir durch eingeübte Sehkonventionen geprägt sind.

Obwohl das authentische Abbild ein Trug ist, wird der naive, gleichwohl weiter vorhandene Wunsch danach auch in Zeiten digitaler Bildbearbeitung gleichermaßen befriedigt wie enttäuscht. Damit ist auch die Fotografie nicht an ihrem Ende angelangt, wiemanche Beiträge zu der Ausstellung »Fotografie nach der Fotografie prophezeiten, sondern befindet sich in einem enormen Umbruch, der zu höchst unterschiedlichen Bildstrategien führt. Diese werden mal über Fotografien realisiert, mal folgen sie eben nur deren ästhetischen Konventionen, ohne noch fotografisch entstanden zu sein. Gerade deshalb scheint der paradigmatische Status der Fotografie für unsere Wahrnehmung vorläufig eher bestärkt denn abgelöst zu sein.

© Medien Kunst Netz 2004