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Walter Ruttmann
»Neue Gestaltung von Tonfilm und Funk. Programm einer photographischen Hörkunst«
Der Film hat die Verwendbarkeit »natürlichen« Materials für die Kunst erwiesen.
Er benutzt (als Material) weder erdachte Formeln und Symbole (wie die Musik) noch »Stellvertreter« (wie das Schauspiel).
Selbst Schauspieler – im Film verwandt – sind erst dann autonome Bestandteile seines Materials, wenn sie sich ihrer Eigenschaft als Schauspieler bis ins Letzte entkleidet und »in natürliches Material« zurückverwandelt haben.
In der Auswahl, Gruppierung und Montage dieses natürlichen Materials liegt die eigentliche Produktivität des Films.
Der Rundfunk besitzt – auf dem Gebiet des Hörbaren – ähnliche Möglichkeiten. Er hat die Fähigkeit, akustische Abbilder eines Geschehnisses (ob Fußballmatch oder Fliegerempfang) – sogar im Augenblick seines Ablaufs – zu vermitteln. Damit leistet er aber lediglich Reportage und nicht Gestaltung.
Das Hörspiel, das diesem akustischen Gestaltungswillen am nächsten kommt, sieht sich in der Einheitlichkeit seiner Wirkung behindert durch die Tatsache, daß es auf eine relativ zufällige und improvisierte Zusammenfügung an sich nicht wesensgleicher Materialien – natürlicher, künstlicher und imitatorischer – beschränkt bleiben muß.
[...] Es stellt Wegweiser des Erlebens auf ohne Wege zu bahnen, es skizziert anekdotisch ohne endgültig zu formulieren.
Wirkliche Gestaltung und kompositorische Zusammenfassung des dem Rundfunk zur Verfügung stehenden natürlichen Materials setzt die Möglichkeit einer von allen Zufälligkeiten freien und bis ins Letzte vom Schöpfer verantworteten Montage – wie im Film – voraus.
D i e T e c h n i k d e s T o n f i l m s b r i n g t d i e M ö g l i c h k e i t.
Unter Tonfilm ist hier nicht die Kombination optischer und akustischer Photographie zu verstehen, sondern lediglich das Verfahren, hörbare Phänome[ne] unstilisiert und einschließlich ihres spezifischen Raumcharakters zu photographieren. Da nun die Photographie des Tons durch Belichtung eines Filmbandes geschieht, ergeben sich für die akustische Montage die gleichen Möglichkeiten wie beim Filmschnitt.
A l l e s H ö r b a r e d e r g a n z e n W e l t w i r d M a t e r i a l.
Dieses unendliche Material ist nun zu neuem Sinn gestaltbar nach den Gesetzen der Zeit u n d des Raums. Denn nicht nur Rhythmus und Dynamik werden dem Gestaltungswillen dieser neuen Hörkunst dienen, sondern auch der Raum mit der ganzen Skala der durch ihn bedingten Klangverschiedenheiten.
Damit ist der Weg offen für eine vollkommen neue akustische Kunst – neu nach ihren Mitteln und nach ihrer Wirkung.
Sie beerbt, belebt und erweitert in ihrer Anwendung: die Gebiete der Musik und des Hörspiels. Sie benutzt zu ihrer Verwertung in erster Linie: Rundfunk und Schallplatte.
(Auszug aus: Film-Kurier, Berlin, 11. Jg., Nr. 255, 26. Oktober 1929)
Quelle: Jeanpaul Goergen, Walter Ruttmanns Tonmontagen als Ars Acustica, Siegen 1994, S. 25–26.