Note: If you see this text you use a browser which does not support usual Web-standards. Therefore the design of Media Art Net will not display correctly. Contents are nevertheless provided. For greatest possible comfort and full functionality you should use one of the recommended browsers. |
Luigi Russolo
»Die Geräuschkunst«
[Auszug]
[...] Um unsere Empfindungsfähigkeit anzuregen und zu steigern, hat sich die Musik in Richtung einer komplexeren Polyphonie und hin zur grösseren Vielfalt der Klangfarben oder Instrumentalfarben entwickelt, sucht nach den kompliziertesten Abfolgen von dissonanten Akkorden und bereitet tastend die Schaffung des MUSIKALISCHEN GERÄUSCHES vor. Diese Evolution zum »Geräusch-Ton« war bis heute nicht möglich. Das Ohr eines Menschen des 18. Jahrhunderts hätte die disharmonische Intensität gewisser Akkorde, die in unseren Orchestern (mit dreimal so vielen Ausführenden gegenüber damals) hervorgebracht werden, nicht ertragen können. Unser Ohr dagegen verlangt danach, da es schon vom modernen, mit vielfältigen Geräuschen so verschwenderischen Leben erzogen worden ist. Doch unser Ohr begnügt sich nicht damit und verlangt nach immer stärkeren akustischen Emotionen.
Auch ist der musikalische Ton in der qualitativen Vielfalt der Klangfarben zu beschränkt. Die kompliziertesten Orchester lassen sich auf vier oder fünf Instrumentenklassen zurückführen, die sich in der Klangfarbe des Tones unterscheiden: Streichinstrumente, Zupfinstrumente, Blechblasinstrumente, Holzblasinstrumente, Schlaginstrumente. So dass sich die moderne Musik mit der vergeblichen Anstrengung, neue klangfarbliche Spielarten zu schaf-fen, in diesem engen Kreis dreht.
Es ist nötig, aus diesem beschränkten Kreis von reinen Tönen auszubrechen und die unendliche Vielfalt der Geräusch-Töne zu erobern.
Jedermann wird übrigens zugeben, dass jeder Ton eine Hülle von bereits bekannten und abgenutzten Empfindungen mit sich trägt, die den Hörer für Langeweile anfällig machen, ungeachtet der Anstrengungen aller Innovatoren unter den Musikern. Wir Futuristen haben die Harmonien der grossen Meister alle tief geliebt und genossen. Beethoven und Wagner haben wäh-rend vieler Jahre unsere Nerven erschüttert und Herzen bewegt. Heute sind wir ihrer überdrüssig und geniessen es viel mehr, die Geräusche der Tram, der Explosionsmotoren, Wagen und schreienden Menschen-mengen in unserer Vorstellung zu kombinieren, als beispielsweise die »Eroica« oder die »Pastorale« wiederzuhören.
Wir können diesen riesigen Kraftapparat, den ein modernes Orchester dar-stellt, nicht anschauen, ohne angesichts seiner armseligen akustischen Ergeb-nisse die tiefste Enttäuschung zu empfinden. Kennt Ihr ein lächerlicheres Schauspiel als das von zwanzig Männern, die sich hartnäckig bemühen, das Miauen einer Violine zu verdoppeln? All dies wird natürlich die Melomanen zum Schreien bringen und vielleicht die einschläfernde Atmosphäre der Kon-zertsäle aufrütteln. Treten wir gemeinsam, als Futuristen, in eines dieser Spi-täler der blutleeren Töne. Hier: der erste Takt trägt euch sofort die Langeweile des schon Gehörten ans Ohr und lässt euch den Überdruss des Taktes, der folgen wird, im voraus kosten. Wir nippen so, Takt für Takt, an zwei bis drei Arten echter Langeweile und warten immer auf die ausserordentliche Empfindung, die nie kommt. Inzwischen ergibt sich ein widerliches Gemisch, das aus der Monotonie der Empfindungen und der dümmlichen religiösen Bewegtheit der Hörer besteht, die buddhistisch trunken zum tausendsten Mal ihre mehr oder weniger snobisti-sche und angelernte Ekstase wiederholen. Fort! Gehen wir hinaus, denn wir können unser Begehren nicht länger bremsen, endlich eine neue musikalische Wirklichkeit zu schaffen, grosszügig klangliche Ohrfeigen auzuteilen, indem wir über die Geigen, Klaviere, Kontrabässe und wimmernden Orgeln mit einem Satz hinwegspringen. Gehen wir hinaus!
Man kann nicht einwenden, dass das Geräusch dem Ohr nur laut und unangenehm sei. Es scheint mir nutzlos, alle feinen und zarten Geräusche aufzuzählen, die angenehme akustische Empfindungen hervorrufen.
Um sich von der erstaunlichen Vielfalt der Geräusche zu überzeugen, genügt es, an das Dröhnen des Donners zu denken, an das Pfeifen des Win-des, an das Prasseln eines Wasserfalls, an das Gurgeln eines Baches, ans Rascheln der Blätter, an den Trab eines Pferdes, das sich entfernt, an das wackelnde Holpern eines Karrens auf dem Strassenpflaster und an den wei-ten, feierlichen und weissen Atem einer nächtlichen Stadt, an alle Geräusche, die die wilden Tiere und die Haustiere von sich geben und alle jene, die der Mund des Menschen ohne zu sprechen oder zu singen hervorbringen kann.
Durchqueren wir eine grosse moderne Hauptstadt, die Ohren aufmerk-samer als die Augen, und wir werden daran Vergnügen finden, die Wirbel von Wasser, Luft und Gas in den Metallrohren zu unterscheiden, das Ge-murmel der Motoren, die unbestreitbar tierisch schnaufen und pulsieren, das Klopfen der Ventile, das Hin-und-her-laufen der Kolben, das Kreischen der mechanischen Sägen, das Holpern der Tramwagen auf ihren Schienen, die Schnalzer der Peitschen, das Knistern der Vorhänge und Fahnen. Wir werden uns damit unterhalten, das Getöse der Rolläden der Händler in unserer Vor-stellung zu einem Ganzen zu orchestrieren, die auf- und zuschlagenden Türen, das Stimmengewirr und das Scharren der Menschenmengen, die ver-schiedenen Getöse der Bahnhöfe, der Eisenhütten, der Webereien, der Druckereien, der Elektrozentralen und der Untergrundbahnen.
Auch darf man die ganz neuen Geräusche des modernen Krieges nicht ver-gessen. Neulich hat der Dichter Marinetti in einem seiner Briefe aus den Schützengräben von Adrianopel mir in wunderbaren parole in libertà das Orchester einer grossen Schlacht geschildert:
"alle 5 Sekunden Belagerungsgeschütze aufschlitzen den Raum mit einem Akkord ZANG-TUMB-TUUMB Aufstand von 500 Echos um ihn unendlich zu zerbeissen zu zerbröseln zu zerstreuen In der Mitte dieser zerquetschen ZANG-TUMB-TUUMB Umkreis von 50 Quadratkilometer springen Explosio-nen Hiebe Fausthiebe Schnellfeuerbatterien Gewalt Grausamkeit Regel-mässigkeit dieses tiefe ernste Skandieren die eigenartigen verrückten hekti-schen hohen Töne des Kampfes Wut Beklemmung offene! aufmerksame! Ohren Augen Nasenlöcher Hopp! welche Freude zu sehen zu hören zu wit-tern alles alles taratatatata der Maschinengewehre brüllen atemlos unter Bissen Ohrfeigen traak-traak Peitschenhiebe pic-pac-pum-tumb Launen-haftes Sprünge 200 Meter Höhe der Gewehre Fort fort zuhinterst im Orche-ster Teiche planschen Ochsen Büffel Stachel Wagen pluff plaff Aufbäumen von Pferden flic flac zing ting sciaack fröhliches Wiehern iiiiiii Gescharre Gebimmel 3 bulgarische Battallione im Marsch croooc-craaac (langsam) Sciumi Maritza oder Karvavena ZANG-TUMB-TUUUMB toctoctoctoc (sehr schnell) croooc-craaac (langsam) Schreie der Offiziere Auf- und Zuschla-gen wie Teller Messing pan hier paak dort BUUUM cing ciak (schnell) ciaciacia-cia-ciaak auf ab dort dort drum herum in der Höhe Achtung auf den Kopf ciaak schön! Flamm flamm flamm flamm flamm flamm Rampe der Starken da unten hinter diesem Rauch Sciukri Pascià vermittelt telephonisch mit 27 Starken auf Türkisch auf Deutsch hallo! Ibrahim! Rudolf! hallo! hallo, Schauspieler Rollen Echos Souffleure Bühnenbilder von Qualm Wäl-der Applause Geruch von Heu Schlamm Mist ich spüre meine gefroreren Füsse nicht mehr Salpetergeruch Faulgeruch Pauken Flöten Klarinetten überall tief hoch Vögel zwitschern Glückseligkeit Schatten cip-cip-cip Brise Grün Herden don-dan-don-din-bèèè Orchester die Narren verprügeln die Orchestermusiker diese prügeligsten tönen tönen Grosse Getöse nicht beenden präzisieren ausschneiden immer kleinere winzigste Geräusche Trümmer von Echos im Theater mit einer Weite von 300 Quadratkilometern
[...]
Jede Äusserung unseres Lebens wird von Geräuschen begleitet. Das Geräusch ist also unserem Ohr vertraut, und es hat das Vermögen, uns das Leben selbst zurückzurufen. Während der stets musikalische Ton, der dem Leben äusserlich gegenübersteht, als Ding für sich, als zufälliger und nicht unerlässlicher Bestandteil, nunmehr für unser Ohr geworden ist, was dem Auge ein allzu bekannter Anblick ist, erschliesst sich uns das Geräusch, das uns, von der Verwirrung und Unregelmässigkeit des Lebens ausgehend, ver-wirrt und unregelmässig erreicht, nie gänzlich und hält uns zahllose Überra-schungen bereit. Wir sind daher sicher, dass wir durch Auswählen, Koordi-nieren und Beherrschen aller Geräusche die Menschen mit einem neuen, unerwarteten Genuss bereichern werden. Obgleich es das Kennzeichen des Geräusches ist, uns brutal ans Leben zu erinnern, darf sich die Geräuschkunst nicht auf eine nachahmende Wiedergabe beschrän-ken. Sie wird ihre grösste emotionale Kraft im akustischen Genuss an und für sich erreichen, den die Inspiration des Künstlers aus den zusammen-gesetzten Geräuschen zu ziehen wissen wird.
Hier nun die 6 Familien der Geräusche des futuristischen Orchesters, das wir rasch auf mechanischem Weg verwirklichen werden:
. 1
Brummen
Donnern
Krachen
Prasseln
Plumpsen
Grollen
2
Pfeifen
Zischen
Schnauben
3
Flüstern
Murmeln
Brotteln
Surren
Gurgeln
4
Kreischen
leichtes Knarren
Knacken
Rascheln
Summen
Knistern
Knattern
Scharren
5
Geräusche, die durch Anschlagen von Metallen, Hölzern, Häu-ten, Steinen, Keramik etc. erhalten werden.
6
Stimmen von Tieren und Menschen: Schreien,Schrillen, Seufzen, Brüllen, Heu-len, Lachen, Röcheln, Schluchzen
In dieser Liste haben wir die charakteristischsten der Grundgeräusche wiedergegeben; die anderen sind nichts als Assoziationen und Zusammensetzungen derselben.
Die rhythmischen Bewegungen eines Geräusches sind unbegrenzt. Es gibt stets, wie für den Ton, einen vorherrschenden Rhythmus, aber um diesen herum können ausserdem zahlreiche Sekundärrhythmen wahrgenommen werden.
SCHLUSSFOLGERUNGEN:
1. — Die futuristischen Musiker müssen das Feld der Töne in einem fort ausweiten und bereichern. Dies entspricht einem Bedürfnis unseres Empfindens. Wir stellen in der Tat in den genialen zeitgenössischen Kompositionen einen Hang zu komplizierteren Dissonanzen fest. Diese entfernen sich immer mehr vom reinen Ton und erreichen fast den Geräusch-Ton. Dieses Bedürfnis und dieser Hang können nur befriedigt werden, indem Geräusche hinzugegeben und mit ihnen Töne ersetzt werden.
2. — Die futuristischen Musiker müssen die beschränkte Vielfalt der Klangfarben der Instrumente, die das heutige Orchester besitzt, durch die unendliche Vielfalt der Klangfarben der Geräusche ersetzen, die mit dafür geeig-neten Mechanismen wiedergegeben werden.
3. — Es ist erforderlich, dass die vom leichten und herkömmlichen Rhythmus befreite Empfindungsfähigkeit des Musikers in den Geräuschen die Methode der Erweiterung und Erneuerung finde, da jedes Geräusch die Vereinigung der verschiedenartigsten, über den vorherrschenden Rhythmus hinausgehende Rhythmen bietet.
4. — Da jedes Geräusch in seinen unregelmässigen Schwingungen einen vorherr-schenden Generalton hat, wird man beim Bau der Instrumente, die es imitieren, leicht eine genügend umfangreiche Vielfalt von Tönen, Halbtönen und Vierteltönen erhalten. Diese Vielfalt von Tönen wird jedem einzelnen Geräusch nicht den Charakter seiner Klang-farbe wegnehmen, sondern erweitert nur die Textur und Ausdehnung.
5. — Die praktischen Schwierigkeiten beim Bau dieser Instrumente sind nicht bedeutend. Ist einmal das mechanische Prinzip gefunden, das ein Geräusch ergibt, kann man den Ton nach den allgemeinen akustischen Gesetzen verändern. Man wird beispielsweise mit der Abnahme oder der Zunahme der Geschwindigkeit verfahren, wenn das Instrument eine Drehbewegung hat, und mit einer Vielfalt von Grösse oder Spannung der klingenden Teile, wenn das Instrument keine Drehbewegung hat.
6. — Nicht mittels einer Abfolge von Geräuschen, die das Leben nachahmen, sondern mittels einer phantasievollen Assoziation dieser verschiedenartigen Klangfarben und dieser verschiedenartigen Rhythmen wird das neue Orchester die komplexesten und neusten Klangempfindungen erreichen. Deswegen wird jedes Instrument die Möglichkeit bieten müssen, den Ton zu verändern und wird einen mehr oder weniger grossen Umfang aufwei-sen müssen.
7. — Die Vielfalt der Geräusche ist unbegrenzt. Wenn wir heute, wo wir vielleicht tau-send verschiedene Maschinen besitzen, tausend verschiedene Geräusche unterscheiden kön-nen, werden wir morgen, mit einem Vielfachen an neuen Maschinen, zehn-, zwanzig- oder dreissigtausend verschiedene Geräusche unterscheiden können, die wir nicht einfach nachahmen, sondern gemäss unserer Phantasie zusammenstellen kön-nen.
8. — Wir laden daher die jungen, genialen und kühnen Musiker ein, alle Geräusche auf-merksam zu beachten, um die verschiedenartigen Rhythmen zu verstehen, aus denen sie sich zusammensetzen, ihren Grundton und ihre Sekundärtöne. Wenn sie dann die verschiedenen Klangfarben der Geräusche mit den Klangfarben der Töne vergleichen, werden sie sich überzeugen, um wieviel die ersteren zahlreicher sind als die letzteren. Dies wird uns nicht nur das Verständnis, sondern auch den Geschmack und die Leidenschaft für die Geräusche geben. Unsere Empfindungsfähigkeit wird vervielfacht werden, und nachdem sie sich futuristische Augen erworben hat, wird sie endlich futuristische Ohren haben. Auf diese Weise können die Motoren und Maschinen un-serer Industriestädte eines Tages in der rechten Weise gestimmt werden, um jede Fabrik zu einem berauschenden Geräuschorchester zu machen.
Lieber Pratella, ich unterbreite diese meine Überlegungen deinem futuristischen Genie, und lade dich zur Diskussion ein. Ich bin kein Berufsmusiker: Ich habe daher weder akusti-sche Vorlieben noch Werke zu verteidigen. Ich bin ein futuristischer Maler, der seine Ab-sicht, alles zu erneuern, in eine viel geliebte und geübte Kunst projiziert. Darum, viel verwe-gener als es ein Berufsmusiker sein könnte, ohne mich um meine anscheinende Sach-unkenntnis zu sorgen, und in der Überzeugung, dass dem Wagemut alle Rechte und Möglichkeiten zustehen, habe ich die grosse Erneuerung der Musik durch die Geräusch-kunst erahnen können.
Luigi Russolo
MAILAND, 11, März 1913.
Quelle: Auszug aus dem Kapitel 1: Futuristisches Manifest aus Luigi Russolo, »Intonarumori«, Mailand, 1916. Hier In der Übersetzung von Justin Winkler und Albert Mayr, Akroama, The Soundscape Newsletter Europe Editions, Basel 1999 und
www.rol3.com/vereine/klanglandschaft
Russolos Text basiert auf dem Manifest von 1913 (Manifesto futurista, Milano, 11 marzo 1913), das 1916 in seinem Buch als erstes Kapitel aufgenommen wurde.