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Dieter Daniels
»Strategien der Interaktivität«
Dieter Daniels
Strategien der Interaktivität
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1. Ideologie oder Technologie – Brecht oder Turing
2. Offene oder geschlossene Systeme – John Cage oder Bill Gates
3. Paradigmenwechsel der Interaktivität von den 60er zu den 90er Jahren
4. Beispiele mediengestützter Interaktion der Intermedia-Kunst der 60er und 70er
5. Fiktion und Funktion der Multimediatechnologie und des Cyberspace
6. Beispiele für mediengestützte Interaktionsformen der 80er und 90er Jahre
i. Interaktion mit einer Videostory, deren Ablauf vom Betrachter bestimmt wird
ii. Das geschlossene System einer Datenwelt, die vom Betrachter erkundet wird
iii. Interaktion zwischen Körper und Datenwelt
iv. Datensystem mit Eigendynamik, die sich durch die Interaktion weiterentwickelt
v. Dialogische Modelle
vi. Der »exemplarische Betrachter«
vii. Ansätze zu einer Kollektivität im Medienraum
7. Interaktion und Internet – die Situation heute
8. Nochmal: Ist Interaktivität eine Ideologie oder eine Technologie?
1. Ideologie oder Technologie – Brecht oder Turing
Ist Interaktivität eine Ideologie oder eine Technologie? Die Vorgeschichte dieser Frage geht zurück bis in die 30er Jahre und läßt sich sich an zwei Positionen festmachen: Bertolt Brecht und Alan Turing. Brecht forderte 1932: »Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. […] Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der wenigen zu diskutieren.«[ 1 ] Alan Turing arbeitet ab 1935 an seiner Theorie einer universellen Maschine, die später in die berühmte Frage mündet: »Können Maschinen denken?« Dabei stellt sich das Problem, wie die Verbindung zwischen einer künstlichen Intelligenz und unserem menschlichen Bewußtsein herzustellen sein könnte: »Wir dürfen hoffen, daß Maschinen schliesslich auf allen rein intellektuellen Gebieten mit dem Menschen konkurrieren. Aber mit welchem sollte man am besten beginnen? Viele glauben, daß eine sehr abstrakte Tätigkeit, beispielsweise das Schachspielen, am besten geeignet wäre. Ebenso kann man behaupten, daß es das beste wäre, Maschinen mit den besten Sinnesorganen auszustatten, die überhaupt für Geld zu haben sind, […] ich meine, daß man beide Ansätze erproben sollte.«[ 2 ]
Diese zwei Positionen stammen aus völlig verschiedenen Diskursen. Turing entwickelt aus der reinen Mathematik die wissenschaftlichen Grundlagen der technologischen Machbarkeit einer Mensch-Maschine-Kommunikation bis hin zur Ununterscheidbarkeit. Brecht hat seine Theatertheorie auf die Medien übertragen und erkennt die sozialen und politischen Wirkungen einer von immer perfekteren Medienmaschinen geprägten Mensch-Mensch Kommunikation. Die Spannbreite zwischen diesen Positionen einer technologischen bzw. einer sozialen Auffassung von Interaktivität bleibt bis heute bezeichnend für die Eckpunkte der Debatte zu Cyberspace und Internet über die wechselseitige Beeinflussung von Medientechnik und Gesellschaftsstruktur.
2. Offene oder geschlossene Systeme – John Cage oder Bill Gates
Trotz der angeblich entpersönlichenden Tendenz der neuen Kommunikationstechnologien stehen heute einzelne Namen mehr als je zuvor für Ideen und Programme – dies gilt in der Politik ebenso wie in Wirtschaft und Kultur. In diesem Sinne läßt sich auch das Feld für die weitere Untersuchung von Ideologie und Technologie der Interaktivität durch zwei exemplarische Personen abstecken. »Programme statt Instrumente« oder »Software statt Hardware« könnte das Motto lauten, das ihre Gemeinsamkeit auf einen Nenner bringt. Durch diese ästhetische Haltung ist John Cage zur Vaterfigur der Neuen Musik und der Intermedia-Kunst der 60er Jahre geworden. Die Umsetzung des wirtschaftlichen Potentials dieser Erkenntnis hat Bill Gates mit dem Multimedia Boom der 90er Jahre zum reichsten Mann der Welt gemacht. Zweifellos verbinden also beide eine verschiedene Bedeutung mit dieser Aussage. Dies läßt sich an ihren radikal verschiedenen Konzepten von »Interaktivität« zeigen.
Cages Kompositionen definieren meist keine exakte musikalische Mensch-Instrument-Interaktion, sondern geben ein vom jeweiligen Ausführenden zu interpretierendes Feld von Möglichkeiten vor, die durch Elemente von Zufall und Variation zu ständig neuen Ergebnissen führen.[ 3 ] Manche Stücke modifizieren die Instrumente (perpared piano) oder überlassen den Ausführenden die Wahl der Instrumente. Der Prozeß der Aufführung verbindet die individuelle Freiheit des Einzelnen zur Modifikation der Struktur mit der daraus resultierenden sozialen Interaktion in der Gruppe von Musizierenden. Diese nicht-hierarchische Form der Kreativität läßt sich mit der sogenannten »Bottom-up«-Struktur vergleichen, in der eine »Open-source«-Software wie Linux von ihren Nutzern weiterentwickelt wird. In beiden Fällen kann ein gegebener Zeichencode so variiert und uminterpretiert werden, daß die Grenze zwischen Autor und Nutzer fließend wird. Der Gegentyp wäre die »Top-down«-Struktur, die sich in der präzise fixierten Notation einer klassischen Komposition ebenso findet wie in der proprietären Software, die Bill Gates Microsoft Corp. entwickelt und für den die Geheimhaltung des Quellcodes die Basis eines kapitalistischen Monopols bildet. Das heißt, alle Nutzer des Programms arbeiten konform zu den von der Industrie vorgegebenen Interaktionsmustern, so wie die klassische Musikkomposition eine möglichst exakte Beschreibung der Bedienung von Musikinstrumenten vorgibt.
Komposition soll für Cage kein möglichst perfektes »Betriebssystem« für Musikinstrumente liefern, sondern einen individuellen und sozialen Kreativitätsprozeß in Gang setzen, der sich sukzessive von der Intention seines Initiators ablösen kann. Die Software von Bill Gates und anderen proprietären Systemen hält demgegenüber ihre Nutzer in Unkenntnis der Strukturen, die ihre »Autoren« ihr eingeschrieben haben. Das Modell des tiefen Geheimnisses aller Kreativität, welches dem guten, alten idealistischen Kunstbegriff entlehnt ist, wird nur noch artifiziell aufrecht erhalten und statt den hehren Zielen des Genies dient es dem schnöden Mammon des Monopols. Für Cage ist Interaktivität eine ästhetisch und ideologisch begründete Auflösung der Grenze zwischen Autor, Ausführenden und Publikum. Er setzt deshalb Medientechniken wie Radio, Schallplatte, Tonband und später den Computer ein, weil sich in den Informationsstrukturen dieser Apparate die musikalische Produktion und Rezeption überlagern können. Technik soll nicht nur menschliche Arbeit ersetzen, sondern ein kreatives Feld eröffnen.[ 4 ] Für Gates ist Interaktivität ein ökonomisch und technologisch bestimmtes Muster, nach dessen Vorgaben Millionen von Menschen ihre Arbeitsprozesse strukturieren. In einem firmeninternen Papier bringt er dies auf den Punkt, wenn er sagt, daß Microsoft mit den menschlichen Usern genauso verfährt wie mit den Computern: Sie werden programmiert.[ 5 ]
Zweifellos löst heute der Computer das Klavier als meistverbreitetes Tasteninstrument im Heim ab. Aber die Befreiung der Jugend von der oft als Qual empfundenen Klavierübung wird nicht durch eine offene Form im Sinne Cages erreicht, sondern durch die freiwillige Selbstkonditionierung in der Interaktion mit industrieller Software, wie Computerspielen, ersetzt. Daß Cage aus dem Bereich der Kunst und Gates aus dem der Technologie kommt, ist deshalb bei dieser zugegebenermaßen gewagten Gegenüberstellung sekundär. Hinter ihren verschiedenen Modellen von Interaktion stecken im Kern letztlich zwei Entwürfe für verschiedene Gesellschaftssysteme. Ihr jeweiliges Prinzip von Offenheit bzw. Geschlossenheit könnte das Leitmotiv für den Bedeutungswandel von »Interaktivität« im Wechsel von den 60er zu den 90er Jahren liefern.[ 6 ]
3. Paradigmenwechsel der Interaktivität von den 60er zu den 90er Jahren
Die Interaktion von Publikum, Werk und Künstler wird in den 60er Jahren zu dem bestimmenden Element einer Ästhetik, deren Ideal eine neue Kunstform jenseits etablierter Gattungen, Kategorien und Institutionen ist. Der Terminus »Intermedia« ist die treffendste Bezeichung für dieses Umfeld. Die Intermedia-Kunst verzichtet in ihrem von John Cage inspirierten und von Happening und Fluxus geprägten Ursprung auf ein abgeschlossenes Werk, an dessen Stelle das Angebot an das Publikum tritt, seine Erlebnisse im Umgang mit Kunst wesentlich selbst zu bestimmen. Das Ziel einer Entgrenzung soll dabei sowohl zwischen Künstler und Publikum als auch zwischen den Gattungen erreicht werden. Diese Aufhebung des Unterschieds zwischen Produktion und Rezeption in den Künsten weist viele Parallelen zur politischen Forderung der 68er Revolte nach einer Okkupation der Produktionsmittel durch die Konsumenten auf.
Der klassische, bürgerliche Kulturbegriff räumt der Partizipation des Betrachters, Zuhörers oder Lesers nur einen niedrigen Stellenwert ein. Im Konzert, in der Literatur oder der Malerei wird der kongeniale Nachvollzug des möglichst rein erhaltenen Originals als oberste Maxime gesehen. Dagegen treten die populären Kulturformen von Varieté und Zirkus bis zum Techno DJ in intensive Beziehung mit dem Publikum. Der Versuch der 60er, Interaktion zu einem Mittel der Avantgardekunst zu machen, war somit auch der Wunsch, ein als elitär empfundenes Umfeld der bürgerlichen Kultur zu überschreiten und eine Wirksamkeit auf die Massenkultur zu erreichen. Die weiteren Ideale lassen sich benennen mit dem von Umberto Eco geprägten Terminus des »offenen Kunstwerks« und dem von Habermas genannten »herrschaftsfreien Diskurs«. Das gemeinsame Feindbild all dieser künstlerischen und theoretischen Ansätze ist die Passivität des kulturellen Konsumismus, der als Effekt der Massenmedien und insbesondere des Fernsehens empfunden wird.[ 7 ]
Ähnliche Modelle offener Interaktion wie in den Künsten werden deshalb zu einer Veränderung der Rolle der Medien entwickelt. Hans Magnus Enzensberger stellt 1970 in Anlehung an Brecht die These auf, daß in der elektronischen Technologie ein emanzipatorisches Potential zur nicht-hierarchischen Kommunikation enthalten ist. Deshalb können für ihn die Medien, wenn sie nur aus ihrer Zweckentfremdung durch das Kapital befreit werden, als Stimulus und Instrument gesellschaftlicher Umbrüche dienen. »Das offenbare Geheimnis der elektronischen Medien, das entscheidende politische Moment, das bis heute unterdrückt oder verstümmelt auf seine Stunde wartet, ist ihre mobilisiernde Kraft.« Und durch diese Kraft könnten die Menschen »frei wie Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerilleros« werden.[ 8 ] Vergleichbare Ideale finden sich in den gegen-industriellen Medieninitiativen, wie sie in der ab 1970 erscheinenden Zeitschrift »Radical Software« ihr Forum haben. Der Typ des Hackers liefert die personifizierte Synthese dieser Utopien. Noch heute steht in der aus dieser Aufbruchszeit tradierten »Hackerethik« der Satz: »Man kann mit Computern Kunst und Schönheit schaffen.«[ 9 ] Die politische Bewegung der 60er Jahre hat ebenso wie die Intermedia Kunst von Fluxus und Happening einen technologie-kritischen Ansatz. Doch die Erkenntnis, das eine bloße Verweigerungshaltung gegenüber den Medien einer Selbstendmündigung gleichkommt, bahnt sich in Kunst und Politik um 1970 gleichermaßen an. Im Umfeld dieser Interferenz von gesellschaftlicher Theorie und massenmedialer Technologie ist die Entstehung des heute Medienkunst genannten Phänomens verwurzelt.
In den 60er Jahren soll gerade durch die Kombination von Zielen der Ideologie mit Mitteln der Technologie die Wirkung von Kunst und Medien aneinander gekoppelt werden. Die soziale und kulturelle Utopie liefert das Ziel einer erhofften zukünftigen Funktion der Medien, die eine gesamtgesellschaftliche Veränderung auslösen soll. In den 90er Jahren hat sich diese Relation genau umgekehrt. Die Medientechnologie ist ihrerseits zum bestimmenden Leitmotiv geworden, aus dem alle sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen hervorgehen sollen. So ist auch die Bedeutung von »Interaktivität« heute wesentlich an die elektronischen Medien gebunden. Die Technik des Interface und die Regeln der Software geben den Rahmen einer solchen technologisch definierten Interaktion vor, die sowohl zwischen Mensch und Mensch mittels der Maschine als auch nur zwischen Mensch und Maschine stattfinden kann. Die »mobilisierende Kraft« der Medien, die Enzensberger noch als Angriffspotential gegen die Macht der Industrie sieht, ist längst zur Werbung für Telekom-Aktien und Mobiltelefone geworden, wo die gleichen Heldenbilder von Tänzern, Fußballspielern oder Guerrilleros Verwendung finden.
Das gleiche gilt für die Idee der Interdisziplinarität, die in den 90er Jahren von einem Paradigma der Kultur zu einem der Technologie umdefiniert wird. Der Bereich des Digitalen kennt keinen prinzipiellen Unterschied von Text, Ton und Bild, lediglich die Datenmengen differieren. Die Verbindung der verschiedenen Medien zu einem Multimedia-Programm bedarf also keiner ästhetischen Legitimation, sondern entspricht dem Grundprinzip der digitalen Technik. Es stimmt zwar, das die Aufteilung der künstlerischen Gattungen mit der ihrer jeweiligen Medien zusammenhängt. Doch der Glaube, daß sich mit einer gemeinsamen medientechnischen Plattform zugleich auch ein inhaltlicher oder ästhetischer Austausch installieren ließe, erweist sich weitgehend als Scheineffekt der Oberflächenähnlichkeit.[ 10 ]
Die Haltung der 90er Jahre, soziale und kulturelle Veränderung als Effekt der Medien zu begreifen, statt wie noch in den 60ern, den Einsatz von Medien als Unterstützung für ebensolche Zwecke herbeizuwünschen, hat auch ihre historischen Wurzeln. Sie reichen von der Technikfaszination der italienischen Futuristen bis zu Marshall McLuhan, der schon 1964 die Medien als die eigentliche, nur von den Künstlern nicht anerkannte, Verwirklichung der in den Künsten formulierten Träume einer neuen Wahrnehmungsform beschreibt.[ 11 ] Ihre heutige, wissenschaftlich fundierte Form findet sie in Medientheorie-Ansätzen wie dem Friedrich Kittlers, laut dem es uns nur möglich ist, den »Output von Medien weiterhin mit Kunst zu verwechseln, weil bei technischen Geräten Design und Schrauben dafür sorgen, daß sie black boxes bleiben.« Denn die Deckelhauben der Geräte sind für Kittler nicht von Künstlern, sondern »schon laut Beschriftung, nur vom Fachmann zu öffnen. Was darunter abläuft, in den Schaltkreisen selber, ist keine Kunst, sondern ihr Ende in einer Datenverarbeitung, die vom Menschen Abschied nimmt.«[ 12 ]
Manche der in der Medienkunst der 90er Jahre erprobten und entwickelten Formen von Interaktivität mögen demgegenüber tatsächlich als naiv erscheinen und vor allem als völlig abhängig von den Vorgaben der Technologie. Doch zeigt ein Rückblick auf die Anfänge von künstlerischen Interaktionsformen mit Medien, daß diese oft tief unter die Deckelhauben der Geräte griffen. Ja sogar schon lange bevor Medien als fertige Apparate unter Deckeln verschwinden und damit Allgemeingut werden, entwerfen Künstler entsprechende Wahrnehmungs- und Handlungsmodelle, die dann erst Jahrzehnte später massenmedialer Alltag werden. In diesem Sinne sieht bereits Walter Benjamin die Sprach- und Bildmontagen der Dadaisten als Antizipation der Medieneffekte des Films.[ 13 ] Seit den Futuristen hat die Avantgardekunst die Technik um ihre Massenwirkung beneidet, doch zugleich auch ihre Wirkungen und ihre Weiterentwicklung schon weit im voraus erahnt. Deshalb kann die Diskussion um interaktive Kunst in den 90er Jahren auch nur vor dem Hintergrund der vorhergehenden Entwicklungen, insbesondere der 60er, wirklich verstanden werden.
4. Beispiele mediengestützter Interaktion der Intermedia-Kunst der 60er und 70er
Musik benötigt zu ihrer elektronischen Verarbeitung wesentlich geringere Datenmengen und Speicherkapazitäten als die Bildkünste. Deshalb ist das Radio älter als das Fernsehen und das Tonband älter als der Videorecorder. Zahlreiche Ansätze künstlerischer Arbeit mit Medien finden darum in der Musik ihre erste klare Ausprägung.[ 14 ] Dies gilt auch für die Idee der »Interaktivität« wie es die Vorbildrolle von John Cage zeigt. Dennoch ist Cages Ausgangspunkt nicht technologisch bestimmt. Ganz im Gegenteil geht er von der Stille aus. Sein Stück »4’33« von 1952 läßt sich gerade durch den Verzicht auf alle Instrumente als das Ideal des »offenen Kunstwerks« sehen. Nichts ist endgültig, alles hängt von den jeweiligen Bedingungen der Aufführung ab. Die Geräusche des Publikums und der Umgebung sind der Inhalt von viereinhalb Minuten gesteigerter Sensibiliät. Zur gleichen Zeit entwirft Cage Stücke, die dieses Prinzip der offenen Interaktion auf die Verwendung elektronischer Medien übertragen. In »Imaginary Landscape No. 4« von 1951 werden 12 Radios wie Musikinstrumente eingesetzt und lassen so ein Zusammenspiel von kompositorischer Vorgabe und jeweiligem Angebot auf den Frequenzen entstehen, das sich gewiß in den USA 1951 völlig anders anhörte als z. B. in Deutschland heute bei einer Aufführung entsprechend der gleichen Partitur. Die »interaktive« mediale Wahrnehumgsform des TV-Zapping, welche ebenfalls aus der individiuellen Selektion, also quasi der »Montage« eines neuen »Films« aus den laufenden TV-Programmen, in Echtzeit entsteht, beruht genauso auf der Synchronität und Redundanz verfügbarer Kanäle wie Cages »Imaginary Landscape No. 4«. Diese Analogie von experimenteller Komposition der 50er und alltäglicher Rezeption der 90er Jahre wäre ein Beispiel für die genannte Antizipation von Medieneffekten durch künstlerische Modelle.
Cages Ansatz ist zwar prägend für das gesamte Umfeld der intermedialen Kunst der 60er Jahre, doch seine Thematsierung der Medien wird im Umfeld von Happening und Fluxus kaum aufgegriffen. Die große Ausnahme ist Nam June Paik, seine »Exposition of Music – Electronic Television« in Wuppertal 1963 zeigt schon in ihrem Titel den Wechsel Paiks von der neuen Musik zu seiner Arbeit mit dem elektronischen Bild. Seine verschiedenen Versionen des hier vorgestellten »Participation TV« sind der erste Entwurf für eine Interaktion des Zuschauers mit dem elektronischen TV-Bild. Durch Manipulationen der Schaltkreise von simplen TV-Apparaten erreicht er bereits komplexe Bildstrukturen die vom Betrachter beinflußt werden können und die der industriellen Vermarktung von entsprechenden Video- und Multimediaapparaten um Jahrzehnte vorauseilen.[ 15 ] Bei nur einem Fernsehkanal bestand in Deutschland bis zur Einführung des ZDF, zufälligerweise ebenfalls im Jahr 1963, die einzige mögliche Interaktion des TV-Zuschauers mit dem Programm in der Bedienung des Ein/Aus Schalters.
Das mit Happening und Fluxus entstandene Ideal einer Kunst ohne Hierarchie von Betrachter und Schöpfer erweist sich als Übergangsphase, die zwar entscheidend zur Ablösung des statischen Werkbegriffs der Bildkünste beiträgt, in seiner völligen Offenheit und Unabschließbarkeit jedoch auf Dauer kein tragfähiges Modell für konkrete Resultate liefert. Vor allem kann das Bedürfnis der Rezipienten nach Symbolen und Fiktionen damit nicht gestillt werden. Mit dem Übergang vom Happening der 60er zur Performance der 70er Jahre wird die Interaktion mit dem Publikum entweder völlig aufgehoben oder stark formalisiert und ritualisiert. Bruce Nauman faßt diesen Wechsel in die deutlichen Worte: »I mistrust audience participation.«[ 16 ] Naumans aus der Performance entwickelte Closed-circuit-Installation »Live-Taped Video Corridor« von 1970 kann als Vorläufer einer Haltung gelten, die statt zur kreativen Partizipation zum genauen Gegenteil führt: einer radikalen Konditionierung des Betrachters durch das Werk, das ihn auf seine eigene Körper/Bild-Erfahrung zurückwirft.[ 17 ] Auf ähnliche Weise verwenden in den 70er Jahren u. a. Dan Graham, Peter Campus und Peter Weibel die Videotechnik, um mittels der Closed-circuit-Installation den Betrachter mit seinem eigenen Bild zu konfrontieren.[ 18 ] Zweifellos sind diese Werke zusammen mit Naumans Korridor die ersten im Kunstkontext einer Ausstellung erfolgreichen interaktiven Installationen. Sie sind jedoch nicht mehr auf Partizipation des Publikums im Sinne der 60er Jahre angelegt, sondern eher Situationen der Reflexion über die Beziehung von Betrachter und Medium. Sie stehen auch für den Verzicht auf eine massenmediale Ausstrahlung des Mediums Video, um statt dessen in fast symbolischer Weise den »geschlossenen Kreislauf« des Kunstsystems zu perpetuieren.
Das Gegenbeispiel zu dieser ästhetisch-medialen Selbstreflexion liefert Valie Exports »Tapp und Tastkino« von 1968. In ihrer als »expanded movie« bezeichneten Straßenaktion trägt die Künstlerin einen Kasten um ihren Körper und erlaubt es den Passanten, durch einen Vorhang an der Vorderseite des Kastens zu greifen, um so ihre Brüste zu befühlen. »Die Vorführung findet wie stehts im Dunkeln statt. Nur ist der Kinosaal etwas kleiner geworden. Es haben nur zwei Hände Platz«, schreibt Valie Export dazu.[ 19 ] Hier wird der Betrachter auf noch drastischere Weise konditioniert als in Naumans »Korridor« und ebenso steht die Grenze von öffentlichem Raum und Privatsphäre in Frage.[ 20 ] Der Bezug zum Medium Film ist auf die metaphorische Ebene verlegt, dadurch zeigt sich um so deutlicher die sinnliche Deprivation des zum Betrachter im Sessel reduzierten Kino- oder Fernsehzuschauers. »Interaktivität« ist hier als direkte sinnliche Erfahrung das Gegenmodell zu der medial geprägten Einseitigkeit der Wahrnehmung. Der von den Futuristen schon 1921 geforderte »Taktilismus« zur Erweiterung des Spektrums der Künste ist bei Export zu einer Kritik an der gesellschaftlichen und sozialen Rolle von Kunst gewandelt. Zweifellos findet Exports Straßenaktion nicht zufällig im Jahr 1968 statt, sondern ist Teil der Forderung nach einem »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, um einen Buchtitel von Habermas zu zitieren, der in der 68er-Bewegung kumulierte.
5. Fiktion und Funktion der Multimediatechnologie und des Cyberspace
Bisher wurden vor allem Beispiele genannt für die interaktive Um-Nutzung von Medien, die eigentlich der Distribution und Reproduktion dienen (Video, TV, Radio). Die künstlerischen Ansätze richten sich dabei bewußt gegen den massenmedialen Konsum dieser Medien, der mehr oder weniger subversiv modifziert wird. Dahinter steht von Brecht bis Paik die Forderung nach einer Veränderung der Eingweg-Struktur dieser Massenmedien. In der computerbasierten Multimediatechnik ist hingegen die Interaktion von Benutzer und Apparat im Medium selbst angelegt. Durch die Vernetzung wird der Computer auch zum zwischenmenschlichen Kommunikationsmedium, das tendenziell alle bisher getrennten Medien in sich vereinigt. Die aktuelle technologische Entwicklung einer vernetzten Virtuellen Realität führt zur Synthese der zuvor getrennten Entwicklungsstränge computerbasierter Simulation bzw. Kommunikation. Die Wurzeln für diese am Ende der 90er Jahre greifbar werdenden, ebenso virtuellen wie realen Erlebniswelten liegen in den 60er Jahren. Dies gilt gleichermassen für die technologischen Entwürfe, wie für die Thesen zu ihren möglichen sozialen, ästhetischen und politischen Implikationen, in denen fast alle heutigen Ideen zum Cyberspace schon vorweggenommen sind.
Zunächst kurz zur technischen Entwicklung: Bis in die 60er Jahre sind die meisten Computer abstrakte Rechenapparate, die Zahlenkolonnen und Lochkarten verarbeiteten. Die Einführung des Bildschirms ist ein erster Schritt zur visuellen Darstellung. Seine Koppelung mit einem Leuchtstift auf dem wegen der atomaren Bedrohung für die Flugabwehr entwickelten Computer Whirlwind, ermöglicht in den 50er Jahren erstmals graphische Interaktion in Echtzeit.[ 21 ] Mit der Verbreitung dieses Prinzips in den 60er/70er Jahren wird auch für Nicht-Programmierer ein visueller, intuitiver und nicht zeitverzögerter Mensch-Maschine-Dialog möglich. Als Ivan E. Sutherland 1966 das für militärische Beobachtungszwecke gebaute Head-Mounted-Display mit der simplen computergenerierten Wireframe-Darstellung eines Raumes verbindet, enthält diese Kombination schon die wesentlichen Elemente der Technik von Virtual Reality, zu der nur noch schnellere Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität fehlen. Ebenso liegen die Anfänge des Internets in den 60er Jahren, basierend auf dem 1968 installierten dezentralen ARPA-Net, das der Aufrechterhaltung militärischer Nachrichtenverbindungen im Fall eines Atomschlags dienen soll. Die zwei Komponenten des Cyberspace die heute zur Vernetzung virtueller Räume führen, sind also beide ein Produkt der Aufrüstung gegen die Bombe in Zeiten des Kalten Krieges.
Überraschend ist die Synchronität dieser technologischen Entwürfe mit den künstlerischen Thesen zu deren Potential. Ivan E. Sutherlands 1965 in Havard verfaßte erste Beschreibung eines »ultimative display« weist weitgehende Ähnlichkeiten zu dem vom Schriftsteller Oswald Wiener ebenfalls 1965 in Wien entworfenen Konzept des »Bio-Adapters« auf, das laut Peter Weibel »der sprachliche Entwurf eines Datenanzugs« ist.[ 22 ] Interessanterweise arbeitet also Sutherland an der Realisierung eines Mensch-Maschine-Interface, während gleichzeitig aber völlig unabhängig davon Wiener die kulturellen Konsequenzen einer solchen Synthese untersucht. Die Differenz zwischen technologischer Praxis und theoretischer Analyse liegt nicht im Glauben an die Machbarkeit, sondern in dem damit verbundenen Erwartungshorizont.
Oswald Wiener stellt dazu zunächst fest: »die mit dem sammelnamen der kybernetik belegten neuern wissenszweige haben binnen so kurzer zeit sätze hervorgebracht, die sich nahezu ohne abwandlungen auf soziologische gegebenheiten anwenden lassen, daß der verdacht erlaubt ist, man habe schon bei ihrer formulierung die setzung fundamentaler zusammenhänge zwischen den bedürfnissen der technologie und denen des staates im auge gehabt.«[ 23 ] Die Konsequenz hieraus ist die »befreiung von philosophie durch technik« mittels des Bio-Adapters, der »dem gesund-heroischen ideal eines den kosmos regierenen homo sapiens erstmalig genügt, und zwar durch trockenlegung des kosmos einerseits, und zum anderen durch liquidation des homo sapiens.«[ 24 ]
Dieser zwar affirmativ formulierten, aber dennoch fast nihlistischen Skepsis steht bei anderen Künstlern eine eher naive Technikbegeisterung gegenüber, die vermutlich den Utopien der Technologieentwickler näher steht. So heißt es etwa in dem Manifest »Die Zukunft der Kunst« von Nicolas Schöffer aus dem Jahr 1968: »Die Informationsnetze müssen den wahren ästhetischen Produkten geöffnet werden. Dazu bedarf es aber einer neuen Kunst-Technologie und einer völligen Umwandlung der Beziehungen zwischen dem herstellenden Künstler und dem verbrauchenden Publikum. […] Wir können uns mit Sicherheit heute schon für die Zukunft anstelle des kleinen Bildschirms einen Raum denken, der den Verbraucher allseitig umgibt. In diesem Raum wird der Verbraucher von audiovisuellen (olfaktorischen, taktilen) Programmen umgeben sein, er wird hier in einem richtigen, durch und durch ästhetischen Klima baden, das er selbst nach seinen Wünschen dosieren, neu zusammenstellen und programmieren kann. Dieses Bad wird ihn in die Lage versetzen, sich immer mehr zu entfalten, zu vervollkommnen, zu sensibilisieren, zu konzentrieren und auszudrücken; es wird zu einer neuen menschlichen Hygiene führen. Diese ästhetische Hygiene ist auch für die Gemeinschaften, die sozialen Gruppen unentbehrlich, die in Stadtgebieten verschiedener Ausdehnung wohnen.«[ 25 ] Was Schöffer jedoch in guter alter futuristischer Manier ignoriert, ist die marginale Rolle, welche Kunst und Künstler bei der faktischen Entwicklung des von ihm beschriebenen Weltmodells spielen werden. Seine »ästhetische Hygiene« der Technologie hat heute zweifellos einen bedrohliche Unterton erhalten.
Es ist verführerisch, die technischen Erweiterungen der Mensch-Maschine-Interaktion mit den »Entgrenzungen« in der Kunst der 60er Jahre in Beziehung zu setzen. Ende der 60er wird diese Synthese von den ersten Veranstaltungen zu Kunst und Technologie propagiert.[ 26 ] Zweifellos, Schöffer, Sutherland und Wiener haben ähnliche technologische Erwartungen an die Zukunft. Doch sie haben zugleich radikal verschiedene Thesen zu deren sozialen, psychischen und politischen Auswirkungen. Erneut wird deutlich, das Interaktivität immer sowohl für eine Technologie als auch eine Ideologie steht. Tatsächlich überlagern diese Felder sich bis heute: Der Begriff »Cyberspace« wird Anfang der 80er vom Science-fiction-Autor William Gibson geprägt. Die emphatischen, ja teils extatischen Bücher von Wissenschaftlern wie Donna Haraway oder populären Autoren wie Howard Rheingold haben mehr zur Cyber-Euphorie im öffentlichen Bewußtsein der 90er Jahre beigetragen, als die praktischen Erfahrungen mit solcher Technologie. Dieser »Hype« stimuliert jedoch wiederum die technologische Entwicklung und vor allem das Bedürfnis danach. Die Fiktion von literarischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Zukunftsentwürfen und die Entstehung der darin beschriebenen technologischen Funktionen bedingen sich gegenseitig. Fiktion und Funktion des Cyberspace enstehen in einer ständigen Rückkoppelung.
Dennoch sind die realen Motive und damit zugleich der ideologische Hintergrund für die Entstehung der Technologie der virtuellen Realität klar zu benennen. Die praktische Umsetzung dieser Entwürfe wird seit den 60ern fast ausschließlich von den Militäretats bezahlt. Unabhängig davon, ob sie von Wissenschaftlern, Schriftstellern oder Künstlern stammen beruhen die philosophischen und ästhetischen Entwürfe zum Cyberspace also auf einer anderen Ideologie als ihre faktische technische Umsetzung. Die eine Ideologie sucht die ästhetische Entgrenzung zwischen Individuum und Kollektiv oder Autor und Rezipient, die andere, ihr denkbar entgegengesetzte, zielt auf die militärische Grenzüberschreitung, auf deren anderer Seite der durch diese Ideologie definierte Feind steht. Da nun die ästhetischen Ideen einer Entgrenzung sich der für andere Ziele entwickelten Apparate bedienen, steht Kunst im berechtigten Verdacht, nur Abfallverwertung oder gar Pseudo-Legitimation von Militärtechnologie zu sein. Dies zeigt sich auch am Beispiel der Computerspiele, die für die breiteste, weltweite Nutzung dieser Technologien stehen. Als Spiele sind sie der Kombinatorik der Künste verwandt, doch von ihrer ideologischen und psychologischen Basis her sind sie bekannterweise großenteils die Illustration des militärischen Ursprungs der Technologie.[ 27 ] Wenn Künstler ihr ästhetisches Streben nach Entgrenzung mit den Mitteln der militärisch entwickelten Technologie fortsetzen, ohne sich dieses Konflikts bewußt zu sein, ist dies besten Falls naiv, schlimmsten Falls opportunistisch.[ 28 ]
6. Beispiele für mediengestützte Interaktionsformen der 80er und 90er Jahre
»Virtuelle Realität und Cyberspace sind Ideen der 60er Jahre, auch wenn ihre Technologie erst Ende der 80er Jahre realisiert wurde«, stellt Peter Weibel fest.[ 29 ] Er gehört ebenso wie Jeffrey Shaw und Valie Export zu den Künstlern, die mit ihrer Arbeit an Interaktionsformen eine Brücke zwischen den Ansätzen der 60er und der 90er Jahre schlagen. Dabei übergeht er aber ebenso wie Shaw und Export den ideologischen Paradigmenwechsel von den ästhetisch-sozialen Entgrenzungsideen der 60er zu der technologischen Interaktivität der 90er Jahre.[ 30 ] Dies mag sich teilweise dadurch erklären lassen, daß in den von Konzept und Minimalismus bestimmten 70er ebenso wie in den postmodern rückwärtsgewandten 80er Jahren der Interaktionsgedanke fast völlig aus der Kunst verschwindet und erst durch die Technologieentwicklung in den 90ern erneut aufgegriffen wird.
Ende der 80er Jahre führen erhöhte Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität der Computer zur realistischen 3D-Animation in Echtzeit. Über Interfaces wie Datenhandschuh und Cyberhelm wird das körperliche Eintauchen in den Datenraum möglich. Auf dieser Grundlage entwickeln sich in den 90er Jahren verschiedene Modelle für die Interaktion von Mensch und Maschine, von Realraum und Datenraum. Die meisten dieser Ansätze zeichnen sich durch eine aufwendige Technologie aus und werden in Zusammenarbeit mit Medieninstitutionen, Hochschulen oder der Industrie realisiert. Die Kommentare zu den kunstbezogenen Projekten betonen durchweg die Aspekte der technisch-ästhetischen Innovation und der Recherche in Zusammenarbeit von Techniker und Künstler. Dagegen findet der in der Videokunst der 60er/70er Jahre obligatorische Anspruch auf einen emanzipatorischen oder medienkritischen Ansatz kaum Erwähnung. Einige der typischen Modelle der Mensch-Maschine-Interaktion seien kurz skizziert und zum Teil in Relation zu außerkünstlerischen Paralellen gesetzt.
i. Interaktion mit einer Videostory, deren Ablauf vom Betrachter bestimmt wird
Diese Stücke gehören zu den ersten erfolgreichen Beispielen technischer Interaktivität, die noch in den 80er Jahren entstehen und nicht zur Domäne des Cyberspace im eigentlichen Sinne gehören. Hier werden Video- und Computertechnik verknüpft, um statt einer geradlinigen Narration eine Geschichte mit mehreren Varianten und Kreisen zu ermöglichen, die dem Betrachter Wahlmöglichkeiten zum Fortgang der Story bietet. Grahame Weinbrens Installationen entwickeln ein komplexe Beziehungen zwischen mehreren Ebenen der Erzählung und arbeiten auf ein interaktives Kino hin (»The Erl King« 1986, »Sonata« 1991/93). Lynn Hershman thematisiert in ihren Installationen aus einer spielerisch-feministischen Haltung heraus vor allem die sexuelle und erotische Dimension der Interaktion, welche den Betrachter zum Mitspieler oder Voyeur macht (»Deep Contact« 1989/90, »A Room of One’s Own« 1992). Das solche Ansätze auch zu einer kollektiven Arbeit ausgebaut werden können, zeigt das »Videolabyrinth«, das 1988 von den Videomacherinnen Rike Anders, Ilka Lauchstädt, Mari Cantu und dem Programmierer Martin Potthoff gemeinsam entwickelt wird und drei interaktive Spielhandlungen enthält, die von Fragen, Quizaufgaben oder Punktevergaben unterbrochen werden. Während diese Arbeit sich in der BRD noch mit von einem Computer gesteuerten Videotapes behelfen muß, was zu langen Wartezeiten zwischen den Sequenzen führt, nutzen Weinbren und Hershman die in den USA verfügbare Videodisktechnik, die sich aber auf dem Massenmarkt nie durchsetzen konnte. Erst mit der CD-ROM wird Anfang der 90er ein interaktives Medium für den Massenmarkt verfügbar, dessen Datenkapazität jedoch für längere Videostorys nicht ausreicht.
Die Versuche der Unterhaltungs- und Fernsehindustrie, das interaktive Kino und interaktive TV zum Massenmedium zu machen, haben bisher noch keinen wirklichen Durchbruch erreicht.[ 31 ] Dies mag teils an der noch zu komplizierten Bedienung liegen, aber der bisherige kommerzielle Mißererfolg aller Modelle von interaktiven Massenmedien (von der CD-I bis zum Digital-TV) läßt fragen, in wie weit das Bedürfnis des Publikums nicht doch eher auf lineare Storys fixiert bleibt.[ 32 ] Auch die dramaturgischen Formen einer interaktiven Narration sind immer noch in den Anfängen. Die beliebteste Form der Interaktion mit linearen Abläufen bleibt nach wie vor das Zapping, daß sich aber als sozusagen anarchische Individualmontage aller Steuerung oder Strukturierung entzieht. Aus dem destruktiven Prinzip des Zapping eine konstruktive Methode der Interaktion zu machen versucht Oliver Hirschbiegels TV-Krimi »Mörderische Entscheidung«, dessen zwei Handlungsstränge 1991 parallel auf ARD und ZDF gesendet wurden. Auch der non-lineare Film »nomad« (1998) von Petra Epperlein und Michael Tucker nutzt die DVD-Technik um dem Betrachter die Wahl zwischen drei parallel aber nicht interaktiv ablaufenden Versionen zu bieten.
ii. Das geschlossene System einer Datenwelt, die vom Betrachter erkundet wird
Dies ist das klassische Grundmodell der 3D-Interaktion, z. B. in Jeffrey Shaws Installationen »The Legible City« (1988) und »The Virtual Museum« (1991) . Ähnlich der Erkundung einer Stadt oder eines Museumsgebäudes durch den Besucher wird hier eine unveränderbare Datenlandschaft durchquert. Entscheidend ist bei Shaw die Qualität des Interface, das den Betrachter von der Tastatur oder Maus löst, um ihn auf ein Fahrrad oder einen Kippsessel zu setzen, was ihm eine intuitive Übertragung alltäglicher Körperbewegungen in die Datenwelt ermöglicht. Es besteht eine gewisse Nähe zu Infosystemen, wie Museumsdarstellungen auf CD-Rom oder interaktiven Stadtplänen, die dem Fahrer eines Autos den Weg durch eine unbekannte Stadt zeigen. Vorläufer aller dieser Systeme ist die Ende der 70er am MIT Cambridge durch die Architecture Machine Group entwickelte »Aspen Movie Map«. Vor allem die Idee eines »virtuellen Museums« hat große Popularität erreicht. Die Metapher des Museumsbesuchs findet sich auf so verschiedenen Produkten wie Software-Demos und populärwissensschaftlichen CD-Roms. André Malraux’s Vision des »Musée imaginaire« scheint erst in der digitalen Technik ihr selbstverständliches Medium gefunden zu haben. Ein Weg, den Mangel an kommunkativen Prozessen mit der »musealen« Datenwelt zu kompensieren, liegt in der Steigerung der illusionistischen Qualität, die zu neuen Erlebnisräumen führt, welche eine komplette Immersion des Betrachters erlauben. Solche High-Tech-Installationen gehören jedoch nur noch bedingt zum Kunstkontext, sondern eher zum Feld der Scientific Visualisation.[ 33 ] Hier zeigt sich eine Traditionslinie die auf das Panorama des 19. Jahrhunderts zurück geht.[ 34 ] Ebenso wird jedoch klar, daß Illusion und Interaktion sich letztlich gegenseitig ausschließen.
iii. Interaktion zwischen Körper und Datenwelt
Alle Techniken der Virtual Reality bilden ein Erweiterung der Wahrnehmung und stellen eine Verbindung der Datenstruktur mit dem Körper her. Die Entwicklung solcher Interfaces ist in den 90er Jahren eine der kreativsten Schnittmengen von künstlerischen und technologischen Ansätzen. Das klassische Set von Datenhandschuh und VR-Brille erweist sich in Ausstellungssituationen als nicht praktikabel, weil es zu gewöhnungsbedürftig und immer nur von einem Besucher nutzbar ist. Eine Paraphrase der musealen Ausstellungssituation liefert der »Zerseher« (1990–91) von Art + Com, bei dem ein Renaissance-Gemälde (der »Junge mit Kinderzeichnung in der Hand« von Giovanni Francesco Caroto) als digitale Reproduktion durch den Blick des Betrachters aufgelöst wird. Der für medizinische und militärische Zwecke entwickelte »Eyetracker« registriert die Blickbewegungen und macht so die medientechnische Umsetzung der aktiven Rolle des Kunstbetrachters zumindest in einer symbolischen Zerstörung möglich. Einen direkten haptischen Zugriff auf ein digitales Bild erlaubt Peter Weibels Installation »Das tangible Bild« von 1991. Diese kann auch als Mensch-Maschine Version von Valie Exports Mensch-Mensch Schnittstelle des »Tapp und Tastkinos« verstanden werden, womit der Wechsel der Paradigma von den 60er zu den 90er Jahren nochmals deutlich wird.[ 35 ] In »Der Vorhang von Lascaux« (1993) führt Weibel diese Bild-Betrachter-Verschmelzung fort und bettet sie in ein philosophisches Konzept über die Geschichte menschlicher Wahrnehmung von der Höhlenmalerei der Urzeiten über Platos Höhle bis zum Cyberspace ein.[ 36 ] Eine Rückkoppelung zwischen Körper und Daten findet in Ulrike Gabriels Installation »Breath« (1992/93) statt. Die Atmung des Betrachters beeinflußt über einen Sensorgürtel die computergenerierte Projektion der kristalin-amorphen Bildstrukturen und den Sound. Diese sollen wiederum auf den Betrachter zurückwirken um so ein Bio-Feedback zwischen Mensch und Maschine in Gang zu setzen.
Der Schritt zur Verbindung von menschlicher und technischer Aktion wird in den Ansätzen für eine interaktive Choregraphie getan. David Rokebys Klanginstallation »Very Nervous System«, dessen »Body-Language«-Reaktion er von 1983–1995 ständig weiterentwickelt, ist eines der frühen Pionierstücke der Körper-Sound Interaktion. Es kommt sowohl als Ausstellungsstück zur Interaktion mit Besuchern zum Einsatz als auch für Aufführungen mit Musikern und Tänzern. Aus einer direkten Zusammenarbeit von Medienkünstler und Choreograph entstehen bei Christian Möller und Stephen Galloway die »Electro Clips« (1994) und bei Michael Saup und William Forsythe das »Binary Ballistic Ballet« (1994).
iv. Datensystem mit Eigendynamik, die sich durch die Interaktion weiterentwickelt
Die Lernfähigkeit von Maschinen gilt seit Turing als zentrale Voraussetzung künstlicher Intelligenz. Auch auf Low-Tech-Niveau besteht eine Vielzahl von Modellen, dem »Werk« ein Eigenleben gegenüber dem Betrachter zuzusprechen. Peter Dittmers Installation »Die Amme« (seit 1992) basiert lediglich auf Sprache und verwickelt den Benutzer über die Tastatur in einen komplexen Dialog, der bis zur Erregung der Maschine und symbolischen Verschüttung von Milch in einer großen Vitrine führen kann.] Die Dialogfähigkeit der Software wird über die Dauer der Benutzung ständig erweitert und bereichert. Durch die geringe Datenmenge von Sprache ist nur ein Personalcomputer nötig, aber der plastische Aufbau der Milchvitrine entschädigt für fehlendes High-Tech. Das Grundprinzip des Turing-Tests wird hier klar in seiner Trennung von rationaler und libidonaler Funktion gezeigt: Die Verwechslung von Mensch und Maschine ist im Sprachdialog möglich, aber betreffs der mütterlichen Milch unwahrscheinlich.
Daniela Plewes Installation »Muser’s Service« (1994–95) basiert ebenfalls auf einem sprachlichen Austausch, doch statt frecher Antworten wie bei der »Amme« liefert der PC hier eine Hilfe zum Tagträumen (engl. to muse) durch die Bildung von freien Assoziationsketten zwischen zwei vom Nutzer einzugebenden Begriffen. Das Computer menschliche Tätigkeiten übernehmen, ist eine Binsenweisheit. Doch wie steht es um Tagträume oder gar Grundsatzentscheidungen? In »Ultima Ratio« bietet Daniela Plewe hierfür ein Modell mit verschiedenen Modi zwischen moralischem Zwiespalt und rationalem Kalkül an. Sie sagt dazu: »Das (modifizierte) Decision-Support-System von Ultima Ratio toleriert im Gegensatz zur klassischen Logik (aber wie andere KI-Systeme auch) Widersprüche und Ausnahmen zu Regeln. […] Der Besucher muß seine Intuitionen explizieren, verspürt dabei womöglich den Wunsch, immer weiter verfeinern zu wollen, ad finitum, eine ultima ratio, die immer wieder entgleitet. Hier sollte also nicht primär KI praktiziert werden, sondern mit der Software und ihren syntaktischen Einheiten (Regeln, Ausnahmen und Widersprüchen) etwas von der Kultur um uns variiert und kommentiert werden.«[ 37 ]
Großen technischen Aufwand erfordert die Eigendynamik, sobald sie in die graphisch-räumliche Darstellung übertragen werden soll. Die Installation »A-Volve« (1994) von Christa Sommerer und Laurent Mignonneau läßt den Besucher auf einem Monitor den Umriß von kleinen künstlichen Wesen skizzieren, die dann in einem virtuellen Aquarium seiner Pflege durch Pseudostreicheln bedürfen, um ihr kurzes digitales Leben zu führen. Statt der in den 60er Jahren propagierten Verbindung von »Kunst und Leben« geht es nun also um eine Überschneidung von Technologie und Biologie zur Simulation von künstlichem Leben. Der angestrebte Charakter einer wissenschaftlichen Visualisierung wird durch den Entertainment-Aspekt zum Teil wieder aufgehoben.
Inwieweit eine solche Eigendynamik von Computern selbst als »kreativ« gelten kann, wird teils ernsthaft, teils ironisch diskutiert. Schon 1985 stellt Richard Kriesche die radikale These auf: »Kunst wird für uns solange eine mysteriöse Tatsache sein, solange die künstliche und natürliche Intelligenz verschiedene Größen sind«, während ihrer Verbindung aber »in der Folge Kunst überflüssig machte.«[ 38 ] Turings Frage »Können Maschinen denken?« wäre demgemäß zu ersetzen durch »Können Maschinen Kunst machen?«
v. Dialogische Modelle
An die Stelle der Interaktion Mensch-Maschine tritt bei diesen Konzepten die Interaktion Mensch-Medium-Mensch. Die einfachsten Modelle hierfür sind Telekommunikationsarbeiten mit Live-Video oder TV-Verbindung zwischen zwei Ausstellungsorten. Diese können auf gegenüberliegenden Seiten der Welt oder nur auf der anderen Straßenseite liegen. Schon in den 70er Jahren nutzt Douglas Davis das Fernsehen für Live-Aktionen, die teils echten Dialog ermöglichen (»Talk Out!«, 1972) oder auch nur metaphorisch, wenn nicht gar metaphysisch eine pseudo-telepathische Verbindung inszenieren (»The Austrian Tapes«, 1974) . Heute können technisch perfektionierte Stücke wie Paul Sermons »Telematic Dreaming« (1992) und »Telematic Vision« (1993). sich bei geeigneter Aufstellung großer Publikumsbeteiligung erfreuen. Die telematische Erweiterung von alltäglichen Situationen, wie auf ein Sofa sitzen oder in einem Bett liegen, baut keinerlei technologische Hemmschwellen auf. Die möglichen Dialoge bleiben aber auf einer spielerischen »Hallo«-Ebene der Kommunikation. In Agnes Hegedüs Installation »Between the Words« (1995) stehen sich die zwei Partner unmittelbar gegenüber, nur durch eine Wand mit dem Interface getrennt, in dem sich virtuelle Gesten und reale Mimik überlagern. Diese poetische Annäherung von virtueller und »Face-to-face«-Begegnung wird zur drastischen Message in sogenannten Cybersex-Anzügen, wie sie die Künstler Kirk Woolford und Stahl Stenslie 1994 vorstellten.[ 39 ] An ähnlichen Modellen für den realen Einsatz wird allerdings eher außerhalb des Kunstbereichs getüftelt. Die große Presseaufmerksamkeit für solche Experimente scheint auf einen akuten Punkt im kollektiven Unterbewußten hinzuweisen. Alle diese dialogischen Ansätze neigen zu einem überladenen Symbolismus der medialen Verbindung. So benennt Douglas Davis schon 1975 das Feedback seiner Arbeit als »Wissen, das ich Teil der Entwicklung eines tiefergehenden, vielfältigeren Kommunikations-Systems bin, zwischen mir und der Welt und zurück zu mir. Es hat nichts zu tun mit einer spezifischen Antwort.«[ 40 ] Es bleibt also bei einer Illustration des »the medium is the message« Satzes von McLuhan.
vi. Der »exemplarische Betrachter«
Der Betrachter erhält in den bisher genannten Installationen eine neue Rolle, indem er nicht nur als Rezipient sondern auch als Akteur auftritt. Diese selbstverständliche Erklärung von Interaktivität unterschlägt jedoch eine zweite, mindestens ebenso wichtige Änderung der Rolle des Betrachters. Denn interaktive Installationen lassen meist nur einen einzigen Betrachter in Aktion treten, der damit einen spezifischen Platz einnimmt und sozusagen zur Vervollständigung des Stücks dazugehört. Er ist nicht ein Betrachter unter vielen, er tritt nicht mehr als Gruppe auf, die sich vor einem Werk versammelt und es im individuellen Rythmus umschreitet – sondern er wird zum »exemplarischen Betrachter«.
In den High-Tech-Simulationen der 90er Jahre bildet der »exemplarische Betrachter« die Verbindung von Datenraum und Realraum. Vergleichbar begegnet er in den Closed-circuit-Videoinstallationen der 70er Jahre seinem eigenen medialen Abbild. Dies schon von Rosalind Krauss 1976 als »Video-Narzißmus« analysierte Element der Selbstverdoppelung führt in den Cyberspace Installationen zu der symbolischen Einsamkeit des Betrachters im virtuellen Raum.[ 41 ] Das gilt auch für Telekommunikationsprojekte, bei denen zwei einzelne Betrachter in Relation gestellt werden, aber gerade die Unüberbrückbarkeit der räumlichen und körperlichen Trennung bei gleichzeitiger Intensität der Verbindung die eigentliche Faszination ausmacht. Paul Sermons telematische Verbindung zweier Menschen in zwei Betten zum Austausch televisueller Pseudotaktilitäten (»Telematic Dreaming«) ist in diesem Sinne auch eine Gegendarstellung zur Rolle der Medien in Valie Exports »Tapp und Tastkino« von 1968.
Die tatsächliche Situation des »exemplarischen Betrachters« im Ausstellungskontext ist natürlich oft alles andere als einsam. Die anderen Besucher sehen ihm vielleicht bei der Interaktion zu, geben Tips und lachen, oder sie warten ungeduldig, bis sie selbst an der Reihe sind – was gerade bei gut besuchten Ausstellungen oft zu Problemen führt. Doch daß die Einsamkeit vor dem Apparat zu den zentralen Erfahrungen dieser Form von Interaktivität gehört, zeigt die Episode, welche Jeffrey Shaw über seine »Legible City« berichtet. Bei einer bis in die späten Nachtstunden geöffneten Ausstellung sah er seine Installation plötzlich in ihrer eigentlichen Erfahrungsebene – nachts alleine mit dem Fahrrad durch eine menschenleere Stadt zu fahren.[ 42 ] Die Einsamkeit reicht also bis in die Bildwelt der Werke hinein: in keinem der zahlreichen virtuellen Museen trifft der Betrachter auf andere Besucher.[ 43 ]
Fast alle bisher genannten Modelle von Interaktivität finden in Installationen statt, die an den realen Raum gebundenen bleiben. Mit diesem Raumbezug können sie zugleich an den Kunstkontext angebunden werden und an seine ortsspezifischen Wertungskriterien von wichtigen und unbedeutenden Ausstellungsplätzen. Aber die Stücke sind durch ihren technischen Aufwand wesentlich schwerer auf Reisen zu schicken als Bilder oder Objekte. Ironischerweise übersteigt der Preis der benötigten 3D-Animationscomputer meist bei weitem einen möglichen Wert des mit ihrer Hilfe realisierten Kunstwerks auf dem Kunstmarkt. Somit entziehen sich diese Stücke der Verkaufbarkeit »nach oben«, wogegen sich die Kunstvideos der Preisskala des Marktschemas »nach unten« hin entzogen. Noch entscheidender ist, daß im Unterschied zu traditionellen, statischen Kunstwerken die wesentlichen Aspekte dieser Installationen nicht durch Abbildungen transportierbar sind, weshalb die Berichterstattung darüber nur Bruchteile erfaßt. Gerade die technologisch aufwendigsten Inventionen überschreiten also die Kapazität der gängigen Vermittlungsmedien und fallen deshalb aus der Struktur der medialen Verbreitung heraus. Deshalb kommt es zu dem ironischen Anachronismus, daß wie in früheren Jahrhunderten der Kunstbetrachter zum Reisenden werden muß, um die Orte der Kunst bei Festivals und Medienausstellungen aufzusuchen, wenn er ihre eigentliche interaktive Qualität erfahren will. Aufgrund dieser Vermittlungsprobleme hat sich die stationäre interaktive Installation ebenso wie wegen ihrer Technikabhängigkeit und der Beschränktheit des Interaktionspotentials im Wesentlichen als Sackgasse erwiesen.
vii. Ansätze zu einer Kollektivität im Medienraum
Wenn in einem kollektiv zu strukturierenden Prozeß mehrere Benutzer miteinander verbunden werden, kann der elektronischen Raum zum sozialen, ja teilweise fast öffentlichen Raum werden. Solche komplexeren Kommunikationsstrukturen sind bereits vor dem Internetboom vor allem als textbasierte Systeme entstanden. Schon der »cadavre exquis« des Surrealismus zeigte das poetische Potential der kollektiven Autorenschaft. Erste Ansätze für vernetzte Schreibprozesse im Kunstkontext sind Roy Ascotts »La Plissure du Texte« (1983) oder John Cages »The First Meeting of the Satie Society« (1986) und in Deutschland das Projekt »PooL Processing« (ab 1988) von Heiko Idensen und Matthias Krohn.[ 44 ]
Das vernetzte Schreiben ist im Internet heute zu einer alltäglichen Diskursform geworden, die dialogische und kollektive Elemente verbindet. Die Textwelt in sogenannten »MUDs« und »MOOs«, die ursprünglich als vernetzte Spiele entstanden sind, werden mit Internettreffs in der Nachfolge des ehemals berühmten kalifornischen »The Well« zu einem Teil des »way of live«.[ 45 ] Auch diese lange Zeit im besten Sinne zweckfreien und kreativen Spielwelten werden mittlerweile kommerzialisiert und dadurch immer mehr zur Verdoppelung der Banalität der realen Lebens zwischen belanglosem Geplaudere und plumper Anmache. Deshalb macht es Sinn, wenn ein Projekt wie »FOOGUE« (seit 1996) von Evelyn Teutsch den Schutzraum des Kunstkontexts auch auf diesem virtuellen Terrain nutzt, aber ohne damit den Hermetismus der Kunstwelt zu duplizieren, sondern einer echten Kollektivität im Medium nahekommt. Christin Lahr überträgt in der Installation »[DPsNtN] = DISPLACED_PERSONS say NOTHING to NOBODY« (1997–99) ihre Recherchen zu den Diskursen »bezüglich An- und Abwesenheit, Wahrheit und Lüge, Geschlecht, Aussehen, Identität und Verortung« im LambdaMOO zurück in den Kunstraum. Diese Überlagerung von virtuellem und realem Raum wird die jedoch nur für den stillstehenden Besucher, also kontemplativ statt interaktiv, erfahrbar.
Eine Verbindung von körperlicher Interaktion in der 3D-Raumsimulation mit aus dem Internet eingespeisten Informationsdaten wird in solch aufwendigen Installationen möglich, wie sie die Gruppe »Knowbotic Research« realisiert. (»Simulationsraum mobiler Datenklänge« 1993, »Dialog with the Knowbotic South« 1994) Der Betrachter betritt hier keinen vorher definierten Datenraum, sondern ein durch mehrere Teilnehmer ständig in Entwicklung befindliches digitales Environment, das versucht, komplexe naturwissenschaftliche Vorgänge, z. B. aus der Antarktisforschung, in neue Formen der Visualisierung zu überführen. Ihr Anliegen als Künstler ist, die wegen zu großer Komplexität nicht mehr vorstellbaren Zusammenhänge aus Naturwissenschaft und Technologie, oder seit 1997 auch die Analyse urbaner Strukturen, durch eine assoziative, räumlich und körperlich erlebbare Umsetzung vorstellbar zu machen. Die an dieser Schnittstelle von Kunst und Scientific Visualisation entstehenden Bilder einer möglichen »computer aided nature« sind allerdings oftmals von verführerischer Ästhetik, vielleicht sogar zu schön, um zugleich auch wahr zu sein.
7. Interaktion und Internet – die Situation heute
Während Naturwissenschaftler schon seit über 10 Jahren weltweit selbstverständlich mit dem Internet arbeiten, findet die Kunst erst mit dem großen Netzboom und dem begleitenden »Hype« zu ihrer neuen Zukunftsvision. Daß die Kunst seit circa 1994 das Internet entdeckt, liegt vor allem an der Einführung einer neuen Software, die das Netz als WorldWideWeb (WWW) multimediafähig macht und es damit neben der rein schriftlichen Kommunikation für Bild und Ton erschließt. Parallel dazu setzen sich mit der CD-ROM und dem Nachfolger DVD interaktive Datenträger als Massenmedium durch. Es ist jedoch absehbar, daß mit schnelleren Übertragungsraten in Zukunft alle Festspeicher durch entsprechende Netzangebote abgelöst werden.
Der wesentlichste Effekt dieser neuen Technologien ist die Erschließung der Interaktion für die Massenmedien: Interaktivität soll das Experimentierlabor verlassen um zur Zukunftsmelodie der Medienindustrie zu werden. Auf einen Schlag wird die Beschränktheit des Zugangs der interaktiven High-Tech-Installationen überwunden. Die interaktiven Datenstrukturen kommen zu jedermann nach Hause, sei es aus der Telefonbuchse oder auf einer silbernen Scheibe. Der Betrachter muß nicht mehr zum romantischen Reisenden auf den Spuren der Werke werden, sondern er wird zum Datenreisenden, dessen »Surfen« im Netz den Abglanz der körperlichen Eleganz des kalifornischen Wassersports auf die virtuelle Ebene hebt.
Die einschneidende Veränderung der Denkmodelle zeigt sich an dem Bedeutungswandel der zentralen Begriffe. »Cyberspace« wird nicht mehr vorrangig als Projektion des realen Raums und des menschlichen Körpers in den Datenraum verstanden, sondern als Vernetzung aller Kommunikationsstrukturen. »Interaktivität« wird von der Mensch-Maschine-Interaktion wieder zur zwischenmenschlichen Interaktion, deren Strukturen durch die Übermaschine des Internets mit seinen Millionen von angeschlossen Computern bzw. Nutzern geprägt wird.
An die Stelle der symbolischen Einsamkeit, wie sie der Betrachter im Cyberspace der frühen 90er Jahre oder vor dem eigenen Videobild der Closed-circuit-Installation der 70er fand, tritt nun das radikale Überangebot an Kommunikation. Das Internet scheint die technische Machbarkeit zur Erfüllung der Utopien einer Intermedia-Kunst zu liefern, da hier alle Medien und Gattungen konvergieren. Die Idee des »Netzwerks« ist älter als seine technische Realität und war schon in den 60er Jahren ein zentrales Motiv sowohl der alternativen Kultur als auch ihres Anspruchs auf politische und soziale Wirksamkeit. Nun werden mit der neuen Technologie die Ideale der 60er Jahre wiederentdeckt: Ein »offenes Kunstwerk«, das erst in der Kommunikation der Teilnehmer entsteht und ein »herrschaftsfreier Diskurs« aller am Netz Beteiligten sind Grundformen der Internet-Ideologie und Ästhetik der frühen 90er Jahre. Ihr Vorbild findet diese Haltung in Projekten wie »Electronic Cafe« von Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz, das 1984 zur Olympiade in Los Angeles verschiedene Stadtbezirke mit einem multimedialen Netzwerk verband. Ohne irgendeine Form von Inhalt zu bieten, soll alleine die Öffnung neuer Kommunikationswege nach dem Willen der Macher eine ethische und demokratische Dimension haben.[ 46 ] »Electronic Cafe« ist damit der Vorläufer aller Netzutopien, in denen ein soziales Modell in die Form von Technologie gegossen wird.
Die erfolgreichsten Projekte im Zwischenfeld von Politik und Kultur sind die seit 1994 zuerst in Amsterdam und dann in zahlreichen Städten Europas entstehenden »Digitalen Städte« und »Internationalen Städte«. In ihrem Programm heißt es: »Neue zwischenmenschliche Beziehungen werden durch die Internationale Stadt initiiert und wirken auf den Alltag der realen Stadt. Im Unterschied zu anderen Medien werden neue Informationen durch sozialen Austausch entstehen.«[ 47 ] Statt des »global village«, das McLuhan in den 60ern propagiert, nun also eine Beschränkung auf die elektronische Nachbarschaft im regionalen Rahmen, aber mit regem Austausch zwischen den untereinander vernetzten, jeweiligen digitalen Metropolen. Viele dieser Projekte stehen bald vor der Frage, ob sie im selbstbestimmten Freiraum alternativ-künstlerischer Medienarbeit bleiben wollen oder sich ebenso wie ihr rasch boomendes kommerzielles Umfeld als Serviceunternehmen professionalisieren. Dies führte dazu, daß die prominente »Internationale Stadt Berlin« sich durch diesen Rollenkonflikt schließlich 1997 auflöst, während die »Internationale Stadt Bremen« sich in eine Internet-Dienstleistungsfirma verwandelt.[ 48 ] Hier wiederholen sich Prozesse der professionellen Differenzierung aus der Videoszene der 80er Jahren in ihrer Abgrenzung oder Annäherung zum Fernsehen, allerdings in stark beschleunigter Form.
Spezifischer auf den Kunstkontext ausgerichtete Projekte entstehen ebenfalls in großer Zahl, ohne daß bisher ein Konsens über die Möglichkeiten von »Netzkunst« besteht.[ 49 ] Das erste wurde 1991 in New York als »The Thing« gegründet und hat seitdem zumindest zeitweise Knotenpunkte in Berlin, Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, Köln, London, Stockholm und Wien eröffnet. Anfangs ist es ein rein textorientiertes Diskussionsforum mit eigener BBS-Netzstruktur abseits des Internet, für das sein Gründer Wolfgang Staehle sich auf große Namen beruft: »Beuys ging es um die soziale Skulptur, eine künstlerische Produktion, die eine Gruppe oder eine Gemeinschaft zusammen macht. The Thing ist so eine Skulptur: es realisiert die Beuyssche Idee von der direkten Demokratie, vom politischen Gemeinwesen als sozialer Struktur. Gleichzeitig stellt es eine Erweiterung des Kunstbegriffs dar.«[ 50 ] Ist die Erweiterung des Kunstbegriffs also durch das geeignete Medium zu lösen, oder wird nun auch auf Künstlerseite der Paradigmenwechsel von der Ideologie der 60er zur Technologie der 90er Jahre proklamiert? Doch die zu Beginn noch vom Pionieergeist der globalen Vernetzung getragene Struktur ist heute von der Technologie überholt worden und hat sich in mehr oder weniger autonome Standorte aufgelöst. Auch hier vollzog sich mit dem WWW der Wandel von der zweckfreien Kommunikation als theoretischem Diskurs oder Szene-Klatsch zu einer halb-kommerziellen Nutzung.
Alle kulturellen Netzprojekte der frühen 90er Jahre versuchen anfangs noch, zwei Ziele parallel zu verfolgen: Zugang zum Netz für jedermann zu schaffen und eine neue Diskurs- und Vermittlungsplattform zu installieren, die sich inhaltlich durch die Aktivitäten ihrer Mitglieder ausformt. Durch den Internetboom wird diese Koppelung von Technik und Inhalt jedoch schnell überfällig. Seit Internetzugang industriell frei Haus geliefert wird, ist mit den Pionierprojekten wie »The Thing« oder »Internationale Stadt« vielleicht auch die letzte Utopie einer Synthese von technischem und künstlerischem Fortschritt im 20. Jahrhundert von der Realität eingeholt worden.
Die Kunst ist bei dem derzeitigen Boom der Netzwerkkommunikation gewiß nur ein kleiner Nebenschauplatz. Aber daß Künstler die zentralen Probleme des Mediums frühzeitig erfassen, zeigt das von Antoni Muntadas initiierte Projekt »The File Room« (seit 1994). Es stellt ein offenes Archiv zu aktuellen und historischen Fällen von Zensur dar, daß durch seine weltweiten Benutzer ständig erweitert wird. Muntadas arbeitet schon seit den 70er Jahren mit der politischen Funktion von Massenmedien. Sein Projekt war zunächst unabhängig von einer Umsetzung ins Internet entstanden, erhält aber erst hier seine eigentliche Brisanz. Die immer wieder laut werdende Forderung nach einer Zensur im Internet, die 1996 in den USA zu einem nur knapp gescheiterten Gesetzesentwurf führte, schafft bei »The File Room« eine unmittelbaren Synthese von Medium und Message. Anfangs waren die Zugriffsraten auf seine WWW Adresse unter den Top Ten von Netzstatistiken, unmittelbar nach der Website von Microsoft!
Ein weiteres Pionierprojekt, das die Funktion des Internets als ganzes zum Thema hat, ist Ingo Günthers »Refugee Republic«. Das Projekt eines über das Internet organisierten Staats, der aus den weltweit 20 Millionen Flüchtlingen eine handlungsfähige Kapitalkraft statt einer wirtschaftlichen Belastung machen soll, mag als typische Netzutopie erscheinen. Tatsächlich wurde die Idee jedoch ebenso wie »The File Room« zunächst unabhängig vom Internet entwickelt (ab 1993) und fand dann erst im Netz ihr passendes Medium. Günther geht nicht vom Status quo aus (Wir haben jetzt das Internet, was machen wir nun als Künstler damit?), sondern entwickelt anhand eines faktischen Problems den Entwurf einer neuen Funktion des Mediums und damit eines Teils der Gesellschaft. Thomas Morus mußte 1516 für sein »Utopia« noch zur Ausflucht eines unentdeckten Inselstaats greifen, obwohl er auf die Verhältnisse im eigenen Land zielte. Günthers Staat kann dagegen ohne Territorium nur im Netz existiert und ist somit eine perfektionierte Utopie, die zugleich mit ihrem Medium auch die Mittel zur Verwirklichung benennt – auch wenn diese bis heute auf sich warten läßt.[ 51 ]
Auch die politischen Utopien, die von höchster Stelle aus am Anfang des Netzbooms standen, so etwa »ein neues athenisches Zeitalter der Demokratie« das Al Gore für Bill Clintons Wahlkampfprogramm des Informationhighway von 1992 beschwor, sind bisher unerfüllt geblieben, haben aber dennoch viel bewirkt, wenn auch in einer anderen Richtung. Es erscheint wie die Erinnerung an eine ewig zurückliegende Epoche des Netzes, daß noch 1993 die ersten Versender von Spam-Werbemails im Internet von der Netzgemeinde mit organisierten Massenprotesten auf ihre E-mail-Adresse attackiert wurden. Seit Mitte der 90er Jahre wandelt sich das Internet von einem wertfreien Mittel des Wissenschaftsdiskurses und der Chat- und News-Groups zu einem Massenmedium mit hartem kommerziellem Verdrängungswettbewerb. Aus dem Kommunikationsmedium wird durch das multimediale WWW ein Konsum- und Broadcastmedium, welches zunehmend mit TV und Radio verschmilzt. Die großen Software- und Telekommunikationsfirmen arbeiten mit Hochdruck an der flächendeckenden Umsetzung von Multimedianetzen als Zukunftsmarkt. Bill Gates und seine Konkurrenten versuchen, die Reste der anarchischen Struktur des Netzes der Hegemonie des Corporate Business zu unterwerfen. Fast zynisch wirkt die von kommerziellen Internetprovidern in Werbebriefen an Künstler geweckte Hoffnung, mit der Einrichtung einer homepage auf der sie z. B. ihre Malerei präsentieren, endlich den Sprung zu weltweiten Berühmtheit zu schaffen. Ebenso ließe sich behaupten, der Eintrag in Telefonbuch wäre der ideale Start für eine Schriftstellerkarriere.
Zweifellos könnte das Internet eine wesentlich größere Herausforderung an das Kunstsystem sein, als alle elektronischen Medien zuvor, da es nicht nur eine neue Form der Produktion wie Video und Computer, sondern vor allem einen neuen Weg der Distribution darstellt. Seine Ubiquität widerspricht dem sozial und räumlich definierten Kunstkontext und seinem notwendig elitären Insiderdiskurs. Mitte der 90er Jahre begann deshalb die hoffnungsvolle Entwicklung neuer Strukturen sowohl auf Seiten der Kunst als auch in der Netzwerkkommunikation um die Kapazität beider Bereiche zusammenzuführen, wie das New Yorker Äda-Web oder die Wiener Public Netbase.[ 52 ] Das diese bisher weitgehend folgenlos geblieben sind, liegt an dem wechselseitigen Ausschlußprozeß zwischen Kunstdiskurs und Netzkulturdiskurs, die sich gegenseitig oft ähnliche Unterstellungen machen, ohne ihr Gegenüber wirklich zu kennen, so etwa die der Kommerzabhängigkeit, Pseudo-Progressivität, Schein-Offenheit oder Borniertheit. Deshalb ist die sogenannante Netzkunst bisher nur der kleinste gemeinsame Nenner der zwei aneinander vorbei verlaufenden Diskurse und damit die Randgruppe zweier Randgruppen.[ 53 ] Mit der Netzkunst kommt ein Paradox zu seiner letzten Zuspitzung, das die Medienkünste von Anfang an begleitet. Die Massenmedien, und vor allem das Internet, lösen alle Kontextbezüge auf. Die Kunst der Moderne hingegen ist im 20. Jahrhundert immer kontext-spezifischer und damit in ihrer Bewertung, ja sogar Wahrnehmbarkeit immer kontext-abhängiger geworden. Kunst im Internet steht deshalb vor dem Dilemma sich medial an alle, aber kontextuell an niemand zu wenden.
Die Reflexe der Umbrüche der Netzentwicklung in der Kunst sind vielfältig. Vor der Gefahr einer Kommerzialisierung dürfte die Kunst dabei vorerst noch sicherer sein, als ihr lieb ist. Die Versuche von »Netzkunst Galerien« sind meist nur nach dem Modell der konventionellen Kunstgalerien geformte virtuelle Verdopplungen und werden vermutlich dem Schicksal von Gerry Schums Fernsehgalerie folgen, der schon 1970 vergeblich versuchte, den Kunstkontext in ein Massenmedium zu transportieren.[ 54 ] Das zeigte zum Bespiel der 1999 gescheiterte Versuch, die New Yorker Website von »The Thing« in einer Internet-Versteigerung zu verkaufen, bei der nur ca. fünf Prozent des Limits von 45 000 Dollar erreicht wurden.
Daß mit der allgemeine Vernetzung nicht die Ära der großen Freiheit, sondern des endlosen WeltWeitenWartens im WWW-Datenstau angebrochen ist, macht »www.antworten.de« (1997) von Holger Friese und Max Kossatz zum Thema. Internetprojekte wie »Dump Your Trash!« (1998) von Joachim Blank und Karlheinz Jeron sind der symbolische Grabstein der unter dem Datenmüll begrabenen Hoffnung auf Kommunikationsbefreiung. Auf ihrem nach der Müllrecyclingfirma der ehemaligen DDR benannten Server sero.org bieten Blank und Jeron außerdem einen »re-m@ail« Service zu öffentlichen Entsorgung von unbeantworteten e-mails an. In einer Zeit, wo netzaktive User nach einer Woche Urlaub schnell über 1000 mails auf ihrem Account haben, ist ein solcher Service Realsatire auf die Selbstblockade der Kommunikationsexplosion. Diese getrost als anti-interaktiv und anti-kommunikativ zu bezeichnenden Konzepte markieren den Übergang von der Netzutopie zur Netzkritik, der sich beispielsweise an der Haltungsveränderung in der Abfolge der Schriften von Agentur Bilwet (Geert Lovink, Arjen Mulder u. a.) über den Zeitraum 1991 bis 1997 ebenso ablesen läßt wie in den Debatten auf der »Nettime-Mailingliste« Nettime-Mailingliste seit 1995.[ 55 ] Es geht in dieser künstlerisch und theoretisch formulierten Netzkritik um eine doppelte Analyse, die nicht eingelösten Versprechungen der Industrie sind ebenso Thema wie die unerfüllten eigenen Utopien. Denn Joachim Blank und Karlheinz Jeron sind ebenso wie Geert Lovink Netzpioniere der frühen 90er Jahre, die mit der Bewegung der Digitalen Städte ein kulturelles und kommunikatives Gegenmodell zur heutigen Netzbanalität entworfen haben.
Die das Netz und vor allem die Diskussion darüber bestimmende Mischung von harter Pornographie, Polit-Radikalismus, Werbung und Propaganda haben Keith Seward und Eric Swenson auf ihrer CD-ROM »Blam! 3« komprimiert unter dem Motto »Interaktivität ist die größte Lüge!«.[ 56 ] Von der Anti-Interaktivität führt ein direkter Weg zur Software-Subversion, wie sie denn unvorbereiteten Besucher etwa auf der Site oder CD-ROM von Jodi.org mit ständig neuen Schreckensbildern eines finalen Absturzes erwartet, denen er hilflos zusehen muß, um dann zu merken, daß er nur eine Simulation des nicht-simulierbaren Endes aller Simulationsmaschinen gesehen hat. Gegen Enzensbergers Thesen zu einer emanzipatorischen, demokratischen Funktion der Medien wendet Jean Baudrillard schon 1972 ein: »Die Medien sind dasjenige, welches die Antwort für immer untersagt, […] es sei denn in Form der Simulation einer Antwort.«[ 57 ] Nicht die Antworten sondern die Fragen waren laut Jochen Gerz entscheidend für den politischen Aufbruch der 68er, und die Unmöglichkeit der Antwort in den Medien zeigt sein nur aus Fragen des Publikums bestehendes Internetprojekt »Das Berkeley Orakel« (seit 1997). Wie am Ende des Aufbruchs der 60er Jahre das von Bruce Nauman formulierte Mißtrauen in partizipative Kunstformen steht, findet am Ende der 90er Jahre eine skeptische Revision des von der Medientechnik geprägten Interaktivitätskonzepts statt.
Der von der Industrie angestrebten Synthese zwischen Netz- und Sendemedien lassen sich auch positive Seiten abgewinnen. Dazu zählen die Ende der 90er Jahre im sogenannten »Crossculture« Umfeld von Medieninitiativen, Kunstkonzepten und Pop- oder Techno-Musik entstehenden Live-Webcastings, in denen das gute alte Broadcastingprinzip sub-kulturell neu erfunden wird. Das die Grenzen zwischen Netz- und Sendestrukturen sich auflösen, zeigt auch Achim Wollscheids Radioprojekt »Imaginary Soundscapes« (1999). Ein kollektiv bestückbarer Klangspeicher wird von mehreren Mitspielern und eventuell auch den Zuhörern via Internet gesteuert. Die dabei enstehenden Kompositionen sind nachts im sonst programmfreien Zeitraum eines Frankfurter Radiosenders live zu hören.
Schließt sich damit der Kreis zu dem Ideal einer ästhetischen Sensibilisierung welche in die Interaktion mit den Medien hineinreicht, wie es John Cages Stück »Imaginary Landscape No. 4« schon 1951 für zwölf Radios und vierundzwanzig Ausführende beispielhaft vorführt? Sind Künstler nur die »exemplarischen Zuhörer«, die uns die mediale Veränderung der Weltsicht durch einen Prozeß der Auswahl und Bündelung erkennen lassen – oder hat Kunst gerade mit den neuen Technologien wieder den Anspruch und die Möglichkeit zu einem Eingriff in die Dynamik der Entwicklung der Mediengesellschaft? Und umgekehrt: wie resistent wird der Kunstbegriff gegen die Mediatisierung aller Lebensbereiche bleiben? Oder ganz konkret auf die hier behandelte Thematik bezogen: Macht es noch Sinn, über die Bedeutung von Interaktivität in der Perspektive der Kunst nachzudenken, oder reicht es, statt dessen auf die Entwicklung der Hard- und Software sowie die ständige weiterwachsende Zahl der Internetanschlüsse zu verweisen?
Das 1999 die Jury des Prix Ars Electronica den Hauptpreis in der Kategorie ».net« an das Betriebssystem Linux vergibt, mag mit der oben betreffs John Cage und Bill Gates geschilderten Differenz offener und geschlossener Systeme zu tun haben. Doch die dahinterstehende Haltung, daß Programmierung die eigentliche Kunst sei, und was Künstler damit machen zweitrangig, trifft sich mit der These Friedrich Kittlers, daß wir nur aus Unkenntnis die Erzeugnisse von Medien mit Kunst verwechseln. Das dies durch die Jury eines Kunstpreises solchermaßen bestätigt wird, kann aus der Perspektive der Kunst als überflüssige Affirmation der Technologiegläubigkeit der Medienkunst kritisiert werden, mit der die Verbindung zum Kunstkontext endgültig gekappt wird.[ 58 ] Doch aus einer kulturgeschichtlichen Sicht kann diese Entscheidung auch als ein Indiz dafür gesehen werden, daß es offenbar eine unstillbare Sehnsucht zurück in die Epoche vor der Trennung von Kunst und Technik gibt. Eine »Ars Electronica« wäre dann die Nachfolgerin einer »Ars Inveniendi«, zu deren Bereich im Barock sowohl die Kriegkunst als auch die Wasserkunst und Feuerwerkskunst, ebenso die ersten Apparate der Rechenkunst und die bei Hofe erfolgreich vorgeführen Androiden-Automaten gehören. Genauso vermischen sich heute im Bereich der technologischen Interaktivität unverhohlene Militärinteressen mit denen der Wissenschaft und Kunst sowie einer postfeudalen Unterhaltung. Auch die zahllosen Projekte im Zwischenbereich von Kunst und Medien die den Namen Leonardo tragen, verweisen auf das gleiche Bedürfnis, den Maler, Anatomen, Festungsbaumeister und Flugapparateerfinder zum Sinnbild einer für immer verlorenen Ganzheit von Kulturleistung, Technikinnovation und Naturforschung zu stilisieren.
8. Nochmal: Ist Interaktivität eine Ideologie oder eine Technologie?
Die Sehnsucht nach dem Homo Universalis der Renaissance wird sich im Zeitalter der Wissens- und Kommunikationsexplosion auch mit Computerunterstützung nicht erfüllen lassen. Dennoch führen Computer und Vernetzung zu einer Konvergenz von bisher getrennen Feldern. Die in den 30er Jahren noch radikal getrennten Fragestellungen von Brecht und Turing, d. h. der sozialen oder technologischen Bedeutung von mediengestützer Interaktion, beginnen sich heute zu überschneiden. Ob wir mit Maschinen statt Menschen oder mit Menschen mittels Maschinen kommunizieren oder ob wir mit Menschen über Maschinen oder mit Maschinen über Menschen sprechen, wird durch die Verflechtung von menschlicher Gesellschaft und technologischer Parallelwelt immer schwerer zu unterscheiden. Das heißt auch, daß die Grenze zwischen Ideologie und Technologie unscharf wird, ja daß Technologie ein zentrales Element der Ideologie der 90er Jahre bildet.[ 59 ]
Diese Konvergenz von Ideologie und Technologie hat sich in der gesamten Entwicklung und Diskussion von medienunterstützter Interaktivität angekündigt. Schon vor aller Medienkunst versuchen die Partizipationsformen von Happening und Fluxus, die Trennung von Produzenten und Rezipienten aufzuheben. Sie haben damit auch gegen die Konditionierung zum Konsumismus durch die Massenmedien reagiert, das zeigen der Einsatz von Radio und TV bei Cage, Paik und Vostell ebenso wie das Expanded Cinema. Aus eben dieser gleichermaßen ästhetischen, sozialen und politischen Ideologie geht die These hervor, daß sich mittels der Medien die gesamtkulturelle Tendenz zur passiven Rezeption aufbrechen ließe, vorausgesetzt diese Medien werden nicht im Interesse der Distribution von Kapital und Industrie eingesetzt, sondern können das ihnen innewohnende Potiential zur Interaktion und Kommunikation entfalten: Das ist der Urspung der These von der emanzipatorischen Kraft der Medien, die sich mit erstaunlicher Gleichartigkeit in so verschiedenen Kontexten findet wie bei Enzenbergers Kritik der fehlenden Medienkompetenz der Linken von 1970 mit Rückgriff auf Brechts Radiotheorie der 30er Jahre und Weibels Aufruf zur Zukunft einer interaktiven Kunst von 1989.[ 60 ] Diese These von der emanzipatorischen Kraft der Medien findet sich auch in der sogenannten »kalifornischen Ideologie« der 90er Jahre, wie sie das Magazin »Wired« exemplarisch verkörpert und dem Projekte wie die »Digitalen Städte« oder »nettime« eine europäische Alternative gegenüberstellen wollen.[ 61 ] Doch schon mit der Wahlkampagne von Bill Clinton zum Informationhighway von 1992 kündigt sich eine entscheidenden Umkehrung an, denn nun wird die zwischen Hackertum, Spät-Hippies und Kunst- oder Politavantgarde entstandene Idee der freien Netzkommunikation in Rekordzeit zur zentralen Botschaft der Medienindustrie. Und in diesem Endstadium ist logischerweise das ursprüngliche Feindbild, das mittels mediengestützter Interaktion und Kommunikation überwunden werden sollte, in Vergessenheit gefallen: die industrielle Hegemonie der Medien als Ursache für den kulturellen Konsumismus.
Die Experimente im Labor der Avantgarde, von Bertolt Brecht über Happening und Fluxus bis zum linken Aktivismus der 60er/70er und schließlich der interaktiven Kunst der 80/90er Jahre haben alle das gleiche Resultat hervorgebracht: Die Wirkung der Medien läßt sich auf Dauer und im großen Maßstab nicht umkehren. Die These vom emanzipatorischen Potential der Medien läßt sich nur in eng begrenzten, kulturell abgeschirmten Nischen umsetzten, taugt jedoch nicht zum Wettbewerb, auch in der Ära des angeblichen Post-Kapitalismus nicht. Schon Brecht sah deshalb, daß seine andere Verwendung des Radios »undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen« sei.[ 62 ] Doch heute, nach dem Ende des Systemkonflikts zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wissen wir, daß es diese andere Ordnung nicht geben wird. Wenn also der Konsumismus ein unablösbarer Effekt aller Massenmedien ist und in den schein-partizipativen Rezeptionsformen des Zappen und Surfens erst ganz zu seiner Erfüllung kommt, dann liefe der Glaube an das emanzipatorisches Potential mediengestützter Interaktion darauf hinaus, Alkoholimus mit Schnaps zu bekämpfen. Brecht hat schon 1932 die einsame Passivität des Radiohörers mit dem schlimmsten, nämlich dem stillen Suff verglichen. Heute endet die Interaktivitätseuphorie der frühen 90er Jahre in der Katerstimmung der von Agentur Bilwet beschriebenen »elektronischen Einsamkeit«, frei nach dem Motto: »Verändere die Welt, bleib’ daheim.«[ 63 ]
[ 1 ] Bertolt Brecht, »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: ders. Werke, Berlin, Frankfurt/M. 1992, Bd. 21, S. 553, 557. Brechts Radiotheorie ist in den 60er/70er Jahren auch in den USA ein Bezugspunkt des Medien- und Kunstdiskurses, u. a. durch ihre Wiederaufnahme bei Hans Magnus Enzesberger, die in den USA von marxistischen Theoretikern wie Todd Gitlin und von Künstlern wie Douglas Davis aufgegriffen wird.
[ 2 ] Alan M. Turing, »Rechenmaschinen und Intelligenz«, (1950) in: ders. »Intelligence Service«, Bernhard Dotzler/Friedrich Kittler (Hrsg.), Berlin 1987, S. 182. Vgl. für eine weiterführende Analyse von Turings Konzepten im Vergleich zur Kunst Duchamps: Dieter Daniels, »Duchamp : Interface : Turing, Eine hypothetische Begegnung von Junggesellenmaschine und universeller Maschine« (in: »Marcel Duchamp, Das Große Glas«, Andreas Eckl/Dorothee Kemper/Ulrich Rehm (Hrsg.), Köln 2000, in Vorbereitung).
[ 3 ] Vgl. John Cage, »Komposition als Prozeß, Teil II: Unbestimmtheit«, in: Frieling/Daniels, »Medien Kunst Aktion«, 1997, S. 27–33.
[ 4 ] Cage schreibt 1966: »Sind wir ein Publikum für Computerkunst? Die Antwort lautet nicht Nein, sie lautet Ja. Was wir brauchen, ist ein Computer, der uns keine Arbeit abnimmt, sondern die Arbeit vermehrt, die für uns zu tun ist […] der uns nicht anmacht […], sondern zu Künstlern macht.« John Cage, »A Year from Monday«, London 1968, S. 50.
[ 5 ] Gates lt. Friedrich Kittlers Vortrag zur Konferenz »Wizards of Oz 1, Offene Quellen und freie Software«, Berlin 1999.
[ 6 ] Söke Dinkla schreibt dazu: »Das Motto ›Kunst und Leben‹ wird transformiert in das Motto ›Kunst und Technik‹.« Doch sie geht nicht darauf ein, daß damit ein ideologischer Paradigmenwechsel verbunden ist, der weit über den Rahmen von Kunst oder Technik hinausgeht. Genauso kann die Interaktion nach einer Partitur im Happening oder den Kompositionen von Cage nicht in Analogie mit der in ein Computerprogramm eingeschriebenen Interaktion gestellt werden, ohne die grundsätzliche Frage der Mensch-Maschine-Austauschbarkeit zu benennen. Söke Dinkla, »Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute«, Ostfildern 1997, S. 41f.
[ 7 ] So untersucht Umberto Eco im letzten Kapitel von »Das offene Kunstwerk« (1962) unter dem Titel »Zufall und Handlung, Fernseherfahrung und Ästehtik« die Offenheit einer Live-Sendung als massenmediales Pendant zu den offenen Strukturen der Avantgarde. Er hofft, daß die offenen Strukturen »als überraschender Bruch in einer passiven Aufmerksamkeit« wirken »oder jedenfalls als Anreiz zur Befreiung von der verführerischen Macht der Bildschirms.« Umberto Eco, »Das offene Kunstwerk«, Frankfurt/M. 1977, S. 211.
[ 8 ] Hans Magnus Enzensberger, »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, Kursbuch Nr. 20, 1970, Reprint in ders.: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, München 1997, S. 98. Vgl. die Kritik an dieser Utopie von Jean Baudrillard, der sich dagegen wendet, in den Medien nur das »Relais einer Ideologie« zu sehen, die von den Mächten des Kapitalismus bestimmt werde, sondern sie vielmehr selbst als »Effektoren von Ideologie« zu begreifen. Jean Baudrillard, »Requiem für die Medien,« (1972) in: ders. »Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen«, Berlin 1978, S. 89f.
[ 9 ] Vgl. die Geschichte der »Hackerethik« laut der Website des Chaos Computer Clubs und Steven Levy, »Hackers: Heroes of the Computer Revolution«, New York 1985.
[ 10 ] Hier liegt auch das Problem der Schnittstelle von Scientific Visualisation und Medienkunst, wie es z. B. die Gruppe Knowbotic Research untersucht.
[ 11 ] Marshall McLuhan, »Die Magischen Kanäle, Understanding Media«, Dresden/Basel 1995. Siehe z. B. S. 477 zum Fernsehen als Instrument des Synästhetik.
[ 12 ] Friedrich Kittler, »Fiktion und Simulation«, in: »Philosophien der neuen Technologie«, Ars Electronica (Hrsg.), Berlin 1989, S. 57.
[ 13 ] Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1935), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, Frankfurt/M. 1978, S. 501. Enzensberger knüpft in diesem Sinn an Benjmain an, wenn er betreffs der 60er Jahre von dem »prognostischen Wert ansonsten überflüssiger Veranstaltungen vom Typ der Happenings, der Fluxus- und Mixed-Media-Shows« schreibt. Enzensberger 1970, a.a.O, S. 131.
[ 14 ] Auch Umberto Eco geht ausdrücklich von der aktuellen Musik aus und bezieht sich auf Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio und Henri Pousseur, allerdings ohne John Cage zu erwähnen. Umberto Eco, a. a . O., S. 27f.
[ 15 ] Durch elektronische Modifikationen des TV-Geräts kann z. B. mit einem angeschlossenen Mikrofon von den Besuchern durch Töne und Geräusche ein oszillierndes Muster auf dem Bildschirm erzeugt werden. Vgl. Frieling/Daniels, a. a . O., S. 62f.
[ 16 ] Bruce Nauman, Katalog Walker Art Center, 1994, S. 77.
[ 17 ] Ein schmaler, nur von einer Person begehbarer Korridor dient Nauman zunächst als Szenario für ein von ihm selbst performtes Videotape. (»Walk with contrapposto«, 1968) Dann wurde er als vom Publikum zu begehende Skulptur ausgestellt (»Performance Corridor«, 1969) und schließlich mit der Ergänzung um zwei Videomonitore und eine Kamera zu der Closed-circuit-Installation »Live-Taped Video Corridor« von 1970. Sobald der Betrachter diese Installation betritt, sieht er am anderen Ende sich selbst auf einem der zwei Videomonitore, während der andere, mit einem vorher aufgezeichneten Video, den leeren Korridor ohne einen Betrachter zeigt. Der Versuch, sich der eigenen Anwesenheit im Bild und/oder Raum zu versichern, wird dadurch fast unmöglich, daß der Betrachter, wenn er sich durch den Korridor zu den Videomonitoren bewegt, sich gleichzeitig von der am Eingang installierten Kamera entfernt und somit im Videobild fast unerkennbar verschwindet. Dieses ausweglose Hin und Her macht den Betrachter zum Versuchsobjekt statt zum kreativen Mitspieler.
[ 18 ] Dan Graham untersucht dabei vor allem die Möglichkeiten der Zeitverzögerung (»Present Continuous Past(s)« 1974) und die Bezüge von Architektur und Videobild. Peter Campus arbeitet mit den videotechnischen Spezifika wie z. B. Überlagerung von Spiegelung und Projektion in dem Stück »Interface« von 1972. Peter Weibel stellt in »Beobachtung der Beobachtung: Unbestimmtheit« (1973) die Monitore und Kameras in eine solche Konstellation, daß der Betrachter sich zwar von hinten, aber trotz aller Verrenkungen nie von vorne sehen kann.
[ 19 ] Valie Export, Katalog Oö. Landesmuseum, Linz 1992, S. 258.
[ 20 ] Vgl. auch Valie Exports Expanded Cinema Projekt »Ping Pong, Ein Film zum Spielen/Spielfilm« (1968), in dem der Zuschauer mit einem Ping-Pong-Schäger den Ball auf die wechselnd aufflackernden schwarzen Punkte der Filmleinwand schlagen soll. Laut Export wird so das »Herrschaftsverhältnis von Produzent und Konsument« deutlich, denn auch als Mitspieler bleibt der Zuschauer völlig von den Vorgaben des Films abhängig. Ebenso führt Exports erste interaktive Videoinstalltation »Autohypnose« (1973) die Konditionierung des Betrachters durch ein abzuschreitendes Verhaltens-Programm und die Belohnung durch Beifall vom Videoband vor.
[ 21 ] Eine genauere Darstellung der Technikentwicklung geben z. B. Peter Weibel, »Virtuelle Realität: Der Endo-Zugang zur Elektronik«, in: »Cyberspace, Zum medialen Gesamtkunstwerk«, Florian Rötzer/Peter Weibel (Hrsg.), München 1993, S. 15–46, vgl. Ausschnitt des Texts in: Medien Kunst Interaktion, Frieling / Daniels 2000 und die bisher umfassendste Studie zur interaktiven Kunst von Söke Dinkla 1997, a.a.O, S. 50–62.
[ 22 ] Vgl. Ivan Sutherland, »The Ultimate Display«, Proceedings of IFIPS Congress 1965, New York, 1965, Vol. 2, S. 506–508, ders., »Computer Inputs and Outputs«, Scientific American, September 1966, und Rötzer/Weibel, a. a . O., S. 18 und 25.
[ 23 ] Oswald Wiener, »Die Verbesserung von Mitteleuropa«, Reinbek 1969/1985, S. CXXXIX.
[ 24 ] Ebd., S. CLXXV.
[ 25 ] Nicolas Schoeffer, »Die Zukunft der Kunst – die Kunst der Zukunft«, in: Katalog Nicolas Schoeffer, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf 1968.
[ 26 ] Vgl. dazu das »E. A. T.«-Programm (Experiments in Art and Technology) am Los Angeles County Museum ab 1967 und den Katalog zur Ausstellung »Cybernetic Serendipity, the computer and the arts«, Studio International, special issue, Jasia Reichardt (Hrsg.), London 1968.
[ 27 ] Vgl. »Künstliche Spiele«, Georg Hartwagner/Stefan Iglhaut/Florian Rötzer (Hrsg.), München 1993.
[ 28 ] Ein Beispiel von seltener Identität von Technik und Inhalt liefert in diesem Sinne eines der ersten visuellen Kunstwerke mit comptergesteuerter Interaktion, das Programm »Random War« von Charles Csuri, daß ausgehend von einer zufallsbestimmten Konstellation den Ablauf einer Schlacht zwischen zwei Soldatengruppen simuliert. Vgl. »Cybernetic Serendipity«, a. a . O., S. 81.
[ 29 ] Rötzer/Weibel, a. a . O., S. 27.
[ 30 ] Siehe dazu den Text von Valie Export in: Medien Kunst Interaktion, Frieling / Daniels 2000.
[ 31 ] Ansätze zur einer Verbindung von Pop-Kultur und Interaktivität finden sich auch im Umfeld der Medienkunst, so bei den Gruppen Station Rose und Die Veteranen.
[ 32 ] Noch vor dem Interaktivitätsboom der 90er Jahre schreibt Ann-Sargeant Wooster in »Reach out and touch someone – The Romance of Interactivity«: »Most uses of interactivity will probably be confined to mass-market populist entertainment […] and rigidly controlled by media merchants.« In: »Illuminating Video«, Dough Hall/Sally Jo Fifer (Hrsg.), New York 1990, S. 302. Siehe dazu auch Regina Cornwell, »Interactive Art: Touching the ›Body in the Mind‹«, in: Discourse, 14.2, Spring 1992, S. 209.
[ 33 ] Jeffrey Shaw hat ab 1993 zusammen mit Ingenieuren und Informatikern des Kernforschungszentrums Karlsruhe das Projekt »EVE - extended virtual environment« entwickelt, das einem Betrachter-interaktiven Panorama entspricht. 1997 hat er zusammen mit dem Frauenhofer Institut Stuttgart das Projekt »confFIGURING the CAVE« in einem für Forschungszwecke entwickelten »Cave Automatic Virtual Environment« (einer begehbaren 3D-Simulation) durchgeführt.
[ 34 ] Diese Entwicklung wird von Horst Bredekamp und Oliver Grau untersucht in dem DFG Forschungsprojekt »Kunstgeschichte und Medientheorien der Virtuellen Realität« am Kunsthistorischen Seminar der Humboldt Universität Berlin.
[ 35 ] Peter Weibel war an Valie Exports Aktion als Publikumsanimateur beteiligt.
[ 36 ] Vgl. Peter Weibel, »Der Vorhang von Lascaux«, in: Katalog »First Europeans, frühe Kulturen – moderne Visionen«, Berlin 1993, S. 78f.
[ 37 ] Plewe in einer E-mail an den Autor.
[ 38 ] Richard Kriesche, »Artificial Intelligence in the Arts«, Graz 1985, S. 13; vgl. Text in: Medien Kunst Interaktion, Frieling / Daniels 2000.
[ 39 ] Vgl. Stahl Stenslie, »Cyber SM«, und: Kirk Woolford, »A touch at the end of the century«, beide in: »Lab 1«, Das Magazin der Kunsthochschule für Medien, Köln 1994, S. 40–43, 72–75.
[ 40 ] Douglas Davis, Interview mit David Ross, in: »Video Art, An Anthology«, Ira Schneider/Beryl Korot (Hrsg.), New York/London 1976, S. 33.
[ 41 ] Rosalind Krauss, »Video: The Aesthetics of Narcissism« in: October, No. 1, 1976.
[ 42 ] Jeffrey Shaw, Gespräch mit Florian Rötzer, »Reisen in der virtuellen Realität«, in: Kunstforum Bd. 117, 1992, S. 295f.
[ 43 ] Erst mit der Ende der 90er Jahre beginnenden Synthese von 3D-Grafik und Internet werden solche virtuellen Museen auch zu möglichen Kommunikationsorten. Vgl. Volker Grassmuck, »Das lebende Museum im Netz«, in: »Konfigurationen zwischen Kunst und Medien«, Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hrsg.), München 1999, S. 231–251.
[ 44 ] Vgl. Roy Ascotts schon 1983 umfassende und konkrete Thesen zu »Kunst und Telematik« in : »Art Telecommunication«, Heidi Grundmann (Hrsg.), Wien/Vancouver 1984, S. 25–59.
[ 45 ] Vgl. Sherry Turkle, »Live on the Screen«, New York 1995, dt.: »Leben im Netz, Identität in Zeiten des Internet«, Reinbek 1999, S. 290 ff.
[ 46 ] Vgl. Gene Youngblood, »Der virtuelle Raum. Die elektronischen Umfelder von Mobile Image«, in: Ars Electronica, Linz 1986, S. 289–302.
[ 47 ] Manifest auf der Website der Internationalen Stadt Berlin, 1994.
[ 48 ] Vgl. Gottfried Kerscher/Joachim Blank, »brave new city«, in: Kritische Berichte, H. 1, 1998, S. 10–16, Themenheft Netzkunst.
[ 49 ] Vgl. zum folgenden auch: Dieter Daniels, »Von der Mail-Art zur E-mail, Kunst der Kommunikation«, in: Neue Bildende Kunst, Nr. 5, 1994, S. 14–18.
[ 50 ] Staehle in: Vera Graf, »Kunst im Informationszeitalter«, Süddeutsche Zeitung, 22. März 1994, S. 11.
[ 51 ] Vgl. Dieter Daniels, »Utopie – Wozu?« in: »Ingo Günther, Republik.com«, Susanne Rennert/Stephan von Wiese (Hrsg.), Ostfildern 1998, S. 48–61.
[ 52 ] Äda-Web und Public Netbase gingen beide Anfang 1995 ans Netz und haben mit Künstlern WWW-spezifische Werke produziert und in einen theoretischen Kontext eingebettet. Äda Web mußte den aktiven Betrieb 1998 einstellen, weil sich der Sponsor aus der Telekommunikationsindustrie zurückzog, und wurde als im Netz zugängliches Archiv an das Walker Art Center verkauft.
[ 53 ] Vgl. dazu die durch ihre wechselseitigen Mißverständnisse bezeichnende Debatte zwischen Isabelle Graw und Tilman Baumgärtel zur Netzkunst: Isabelle Graw, Man sieht, was man sieht. Anmerkungen zur Netzkunst, in: »Texte zur Kunst«, Heft 32, 1998, S. 18–31; Tilman Baumgärtel, »Das Imperium schlägt zurück!«, in der On-Line Zeitschrift Telepolis, 20.01.99.
[ 54 ] Die Moskauer Netzkunst Galerie »Art Teleportacia« von Olia Lialina hat zwar bereits viel Presseaufmerksamkeit erhalten aber dennoch bisher nur ein eigenes Werk der Galeristin verkauft. Der private Kauf des Projekts »www.antworten.de« von Holger Friese und Max Kossatz durch die Sammler Hannelore und Hans-Dieter Huber war immerhin der New York Times on-line eine Notiz wert.
[ 55 ] Agentur Bilwet hat folgende Bücher veröffentlicht: »Bewegungslehre«, 1991; »Medienarchiv«, 1993; »Der Datendandy«, 1994; »Elektronische Einsamkeit«, 1997; vgl. auch »Netzkritik«, nettime (Hrsg.), 1997, und: »Read Me! filtered by nettime, ASCII culture and the revenge of knowledge«, Josephine Bosma u. a. (Hrsg.), New York 1999.
[ 56 ] Vgl. Stefan Römer, »Interaktivität ist die größte Lüge«, in: Texte zur Kunst, Nr. 32, 1998, S. 70–73.
[ 57 ] Jean Baudrillard (1972), a. a . O., S. 91.
[ 58 ] Vgl. dazu Armin Medosch in der On-Line Zeitschrift Telepolis, 1. 6. 99.
[ 59 ] Vgl auch Jean Baudrillard, für den die Medien selbst eine Ideologie hervorbringen, statt nur ihr Mittel zu sein (s. Anm. 8).
[ 60 ] Peter Weibel sieht es 1989 so, daß die gesamte moderne Kunst auf das Prinzip des »Inter-« hinentwickelt und macht es zu seinem Programm, sich »auf die eigentlichen utopischen sozialen Möglichkeiten« zu konzentrieren, »welche die Technik bietet, zum Beispiel die Partizipation an und die Interaktion mit dem Kunstwerk als Modell für emanzipatorische Kommunikationsformen.« Peter Weibel, »Momente der Interaktivität«, in: Kunstforum Bd. 103, 1989, S. 87.
[ 61 ] Vgl. dazu: Richard Barbrook/Andy Cameron, »Die kalifornische Ideologie«, in: »Netzkritk«, nettime (Hrsg.), Berlin 1997. Hier wird gerade gegen die amerikanische Technikbegeisterung eine eigene europäische Position gefordert, in der sich die »High-Tech-Handwerker mit der Theorie und Praxis der bildenden Kunst wieder in Verbindung setzen.« (S. 32).
[ 62 ] Brecht (1932), a. a . O., S. 557.
[ 63 ] Agentur Bilwet, »Elektronische Einsamkeit«, Köln 1997, S. 11.
Quelle:
Frieling, Rudolf ; Daniels, Dieter: Medien Kunst Interaktion, die 80er und 90er Jahre in Deutschland. Hg. Goethe-Institut München / ZKM Karlsruhe. Springer Verlag, Wien / New York, 2000, S. 142–169