Hinweis: Wenn Sie diesen Text sehen, benutzen Sie einen Browser, der nicht die gängigen Web-Standards unterstützt. Deshalb wird das Design von Medien Kunst Netz nicht korrekt dargestellt. Die Inhalte selbst sind dennoch abrufbar. Für größtmöglichen Komfort und volle Funktionalität verwenden Sie bitte die empfohlenen Browser. |
John Cage
»Die Zukunft der Musik – Credo«
ICH GLAUBE, DASS DIE VERWENDUNG VON
GERÄUSCHEN ...
Wo immer wir auch sein mögen, meistens hören wir Geräusche. Beachten wir sie nicht, stören sie uns. Hören wir sie uns an, finden wir sie faszinierend. Das Geräusch eines Lastkraftwagens bei 50 Stundenkilometer. Atmosphärische Störungen im Radio. Regen. Wir wollen diese Klänge einfangen und beherrschen, nicht um sie als Klangeffekte einzusetzen, sondern als Musikinstrumente. Jedes Filmstudio hat ein auf Film gespeichertes Archiv für »Klangeffekte«. Mit einem Filmphonographen kann man heute Amplitude und Frequenz eines jeden Klanges steuern und ihn mit Rhythmen versehen, die innerhalb oder auch jenseits der Reichweite unserer Vorstellungskraft liegen. Sind vier Filmphonographen verfügbar, können wir ein Quartett für Explosionsmotor, Wind, Herzschlag und Erdrutsch komponieren und aufführen.
UM MUSIK ZU MACHEN ...
Sollte das Wort Musik heilig sein und den Instrumenten des 18. und 19. Jahrhunderts vorbehalten, können wir dafür ein sinnvolleres setzen: Klangorganisation.
SOLANGE ANDAUERN UND ZUNEHMEN WIRD, BIS WIR ZU EINER MUSIK GELANGEN, WELCHE MIT HILFE ELEKTRISCHER INSTRUMENTE PRODUZIERT WIRD
Die meisten Erfinder elektrischer Musikinstrumente suchten die Instrumente des 18. und 19. Jahrhunderts zu imitieren, wie ja auch die frühen Automobildesigner die Kutsche kopierten. Das Novachord und die Solovox sind Beispiele für das Bestreben, eher Vergangenes nachzuahmen, anstatt das Künftige zu entwerfen. Als Theremin ein Instrument mit grundlegend neuen Möglichkeiten herausbrachte, taten die Thereminiten ihr Bestes, um das Instrument wie irgendein altes klingen zu lassen, gaben ihm ein ekelhaft süßliches Vibrato und spielten darauf recht und schlecht die Meisterwerke der Vergangenheit. Obgleich das Instrument über eine reiche Palette von Klangqualitäten verfügt, die einfach durch Einstellung eines Skalenreglers gewonnen werden, treten die Thereminiten als Zensoren auf, die dem Publikum jene Klänge gewähren, von denen sie annehmen, das Publikum hätte sie gern. So behütet man uns vor neuen Klangerfahrungen.
Das besondere Merkmal der elektrischen Instrumente wird darin bestehen, eine vollständige Kontrolle der Obertonstruktur der Töne (im Gegensatz zu den Geräuschen) zu gewährleisten und Töne jeglicher Frequenz, Amplitude und Dauer zur Verfügung zu stellen.
DIE ALLE BELIEBIGEN HÖRBAREN KLÄNGE FÜR MUSIKALISCHE ZWECKE BEREITSTELLEN. PHOTO-ELEKTRIZITÄT, FILM UND MECHANISCHE MEDIEN FÜR DIE SYNTHETISCHE PRODUKTION VON MUSIK
Die Komponisten können heute unmittelbar Musik machen, ohne die Hilfe dazwischen geschalteter Interpreten. Jedes auf einer Tonspur genügend oft wiederholte Muster wird hörbar. Auf einer Tonspur werden 280 Schwingungen pro Sekunde einen Klang ergeben, wogegen ein 50mal pro Sekunde wiederholtes Bild von Beethoven auf einerTonspur nicht nur eine andere Tonhöhe, sondern auch eine andere Klangqualität besitzen wird.
WERDEN UNTERSUCHT WERDEN. WÄHREND IN DER VERGANGENHEIT EINE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN DISSONANZ UND KONSONANZ IM GANGE WAR, WIRD ES IN NAHER ZUKUNFT DIE ZWISCHEN DEM GERÄUSCH UND DEN SOGENANNTEN MUSIKALISCHEN KLÄNGEN SEIN. DIE GEGENWÄRTIGEN METHODEN, MUSIK ZU SCHREIBEN, ALLEN VORAN DIEJENIGEN, WELCHE MIT DER HARMONIK UND IHRER BEZIEHUNG ZU BESONDEREN STUFEN IM KLANGFELD ARBEITEN, WERDEN FÜR DEN KOMPONISTEN UNZULÄNGLICH SEIN, DER DEM GESAMTEN KLANGFELD GEGENÜBERSTEHT
Der Komponist (Klangorganisator) wird nicht allein dem gesamten Klangfeld, sondern desgleichen dem gesamten Zeitfeld gegenüberstehen. Wie in der etablierten Filmtechnik wird wahrscheinlich der »Raster« oder der Bruchteil einer Sekunde die Grundeinheit der Zeitmessung sein. Kein Rhythmus wird dem Komponisten unerreichbar sein.
MAN WIRD NEUE METHODEN ENTDECKEN, DIE SCHÖNBERGS ZWÖLFTONMETHODE
Schönbergs Methode schreibt jedem Material einer Gruppe gleichartiger Materialen dessen Funktion in bezug auf die Gruppe vor. (Die Harmonik schrieb jedem Material einer Gruppe ungleichartiger Materialen seine Funktion im Hinblick auf den Grundton oder dem wichtigsten Material der Gruppe vor.) Schönbergs Methode entspricht der modernen Gesellschaft, in der die Betonung auf der Gruppe und auf der Einordnung des Individuums in die Gruppe liegt.
UND DEN GEGENWÄRTIGEN METHODEN, SCHLAGZEUGMUSIK ZU SCHREIBEN, STARK VERWANDT SEIN WERDEN
Die Schlagzeugmusik ist der zeitgenössische Übergang von einer aufs Klavier bezogenen Musik zu einer Allklangmusik der Zukunft. Jeder Klang ist für den Komponisten von Schlagzeugmusik annehmbar; er erforscht das akademisch verbotene »nichtmusikalische« Klangfeld, soweit dies manuell möglich ist.
Angelpunkt der Methoden zur Komposition von Schlagzeugmusik ist die rhythmische Struktur einer Komposition. Sobald sich diese Methoden verdichtet haben, werden die Mittel zur Gruppenimprovisation einer ungeschriebenen, aber kulturell bedeutsamen Musik vorhanden sein. In den östlichen Kulturen und im Jazz hat dergleichen bereits stattgefunden.
WIE AUCH ANDEREN, VOM BEGRIFF DES GRUNDTONS FREIEN METHODEN.
ALLEIN DAS FORMPRINZIP WIRD UNS MIT DER VERGANGENHEIT VERBINDEN. OBWOHL DIE GROSSFORM DER ZUKUNFT NICHT DIE DER VERGANGENHEIT SEIN WIRD, EINMAL FUGE UND EIN ANDERMAL SONATE, WIRD SIE MIT BEIDEN VERWANDT SEIN, WIE JENE MITEINANDER VERWANDT SIND
Aber zunächst müssen Zentren experimenteller Musik eingerichtet werden. In diesen Zentren fände man die neuen Materialien, Oszillatoren, Generatoren, Geräte zur Verstärkung leiser Klänge, Filmphonographen usw.... Komponisten am Werk, die die Mittel des zwanzigsten Jahrhunderts benützen, um Musik zu machen. Aufführungen der Resultate, Klangorganisation zu musikalischen und außermusikalischen Zwecken (Theater, Tanz, Film).
KRAFT DES ORGANISATIONSPRINZIPS ODER DER DEN MENSCHEN EIGENEN FÄHIGKEIT, ZU DENKEN
Quelle: Dieser vielleicht einflußreichste von John Cages schriftlich fixierten Texten wurde bereits 1937 in Seattle vorgetragen, aber erst 1958 im Begleitheft zu George Avakians Aufnahme der Jubiläums-Retrospektive »25 Jahre Cage« veröffentlicht.
Deutsche Übersetzung aus: Richard Kostelanetz, John Cage, Verlag M. DuMont Schauberg, Köln 1973. Wiederabgedruckt in: Für Augen und Ohren, Berlin 1980, S. 112f.