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László Moholy-Nagy
»Das simultane oder Polykino«
Man müsste ein Kino bauen, das für verschiedene Versuchszwecke hinsichtlich Apparatur und Projektionsfläche eingerichtet ist. Es ist z. B. vorstellbar, die übliche Projektionsebene durch einfache Verstellvorrichtung in verschiedene schräg lagernde Flächen und Wölbungen zu gliedern, wie eine Berg-Tal-Landschaft, der ein möglichst einfaches Teilungsprinzip zugrunde liegt, um die Wirkung der auf ihr erfolgenden Projektionszerrung beherrschen zu können.
Ein anderer Vorschlag zur Umänderung der Projektionsflächen wäre: an Stelle der heutigen viereckigen eine kugelsegmentförmige. Diese Projektionsfläche muss einen sehr großen Radius, also sehr geringe Tiefe haben, und für den Zuschauer in einem Sehwinkel von ca. 45º angebracht werden. Auf dieser Projektionsfläche sollen mehrere (bei den ersten Versuchen vielleicht zwei) Filme gespielt werden, und zwar nicht auf eine feste Stelle projiziert, sondern kontinuierlich von links nach rechts bzw. von rechts nach links, von unten nach oben, von oben nach unten usw. laufend. Bei diesem Verfahren lassen sich zwei oder mehrere erst voneinander unabhängige, später bei ihrem berechneten Zusammentreffen einander sinngemäß deckende Geschehnisse darstellen.
Die große Projektionsfläche hat auch den Vorzug, einen Bewegungsvorgang, sagen wir den eines Autos, von einem Ende zum anderen mit größerer Illusion darzustellen (Bewegung in der zweiten Dimension) als die jetzigen Projektionsflächen, auf welchen immer ein Bild fixiert werden muss.
Um recht deutlich zu werden, teile ich eine schematische Skizze mit:
Von links nach rechts läuft der Film des Herrn A: Geburt, Lebenslauf. Von unten nach oben läuft der Film der Dame B: Geburt, Lebenslauf. Die Projektionsflächen der beiden Filme schneiden sich: Liebe, Ehe usw. Die beiden Filme können dann entweder sich kreuzend, in durchscheinenden Geschehnisfolgen oder parallel nebeneinander weiterlaufen; oder es kann ein neuer gemeinsamer Film der beiden Personen an die Stelle der beiden ersten treten. Als dritter bzw. vierter Film könnte der Film des Herrn C gleichzeitig mit den Vorgängen A und B von oben nach unten oder von rechts nach links oder auch in anderer Richtung laufen, bis er die anderen Filme sinngemäß schneiden bzw. decken kann, usw.
Ein solches Schema wird natürlich für ungegenständliche Lichtprojektionen in der Art der Fotogramme ebenso geeignet, wenn nicht geeigneter sein. Mit Einschaltung farbiger Wirkungen können hier noch reichere Gestaltungsmöglichkeiten entstehen.
Die technische Lösung solcher Projektionen wie die des Autos oder der erwähnten Skizze ist sehr einfach und gar nicht kostspielig. Es muss nur ein drehbares Prisma vor die Linse der Filmprojektionsapparate eingeschaltet werden.
Die große Projektionsfläche ermöglicht auch eine simultane Wiederholung einer Bilderfolge, indem weitere Kopien des laufenden Filmstreifens durch neben, einanderstehende Apparate, neu von vorn beginnend, auf die Fläche projiziert werden. Man kann so den Anfang einer Bewegung während ihres Weiterschreitens – stufenweise überholt – immer wieder zeigen und damit neue Wirkungen erzielen.
Die Verwirklichung derartiger Pläne stellt neue Anforderungen an die Leistungsfähigkeit unseres optischen Aufnahmeorgans, des Auges, und unseres Aufnahmezentrurns, des Gehirns.
Durch die Riesenentwickelung der Technik und der Großstädte haben unsere Aufnahmeorgane ihre Fähigkeit einer simultanen akustischen und optischen Funktion erweitert. Schon im alltäglichen Leben gibt es Beispiele dafür: Berliner queren den Potsdamer Platz. Sie unterhalten sich, sie hören gleichzeitig:
die Hupen der Autos, das Klingeln der Straßenbahn, das Tuten der Omnibusse, das Hallo des Kutschers, das Sausen der Untergrundbahn, das Schreien des Zeitungsverkäufers, die Töne eines Lautsprechers usw.
und können diese verschiedenen akustischen Eindrücke auseinanderhalten. Dagegen wurde vor kurzem ein auf diesen Platz verschlagener Provinzmensch durch die Vielheit der Eindrücke so aus der Fassung gebracht, dass er vor einer fahrenden Straßenbahn wie angewurzelt stehen blieb. Einen Analogfall optischer Erlebnisse zu konstruieren liegt auf der Hand.
Ebenso analog, dass moderne Optik und Akustik, als Mittel künstlerischer Gestaltung verwendet, auch nur von einem für die Gegenwart offenen Menschen aufgenommen werden und ihn bereichern können.
Quelle: Hans M. Wingler (Hg.), Laszlo Moholy-Nagy, Malerei Fotografie Film, Faksimile-Nachdruck nach der Ausgabe von 1927, Gebr. Mann Verlag, Berlin 2000, S. 39–41.