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Walter Ruttmann
»Malerei mit Zeit«
Die Zeit, in der wir leben, ist gekennzeichnet durch eine eigentümliche Hilflosigkeit künstlerischen Dingen gegenüber. Krampfartiges Festhalten an einer längst historisch gewordenen Art des Verhältnisses zur Kunst mengt sich mit der zunehmenden Überzeugtheit, daß die Wirkungsmöglichkeit ganzer Kunstzweige erstorben ist, ja daß die Künste uns Abendländern überhaupt nichts mehr zu sagen haben, da auch sie organische Gebilde sind, den Gesetzen des Todes – wenn auch nur eines zeitweiligen – unterworfen. Diese Einstellungen – die reaktionäre und die skeptische – tragen aber beide nicht den Charakter ehrlicher Auseinandersetzung des Menschen unserer Zeit mit den geistigen Vorgängen unserer Zeit. Sie sind beide nichts anderes als Posen der Hilflosigkeit gegenüber der eigentümlichen Struktur, die die Geistigkeit unserer Zeit charakterisiert.
Dieser spezifische Zeitcharakter ist in der Hauptsache hervorgerufen durch das »Tempo« unserer Zeit. Telegraf, Schnellzüge, Stenografie, Fotografie, Schnellpressen usw., an sich nicht als Kulturerrungenschaften zu werten, haben zur Folge eine früher nicht gekannte Geschwindigkeit in der Übermittlung geistiger Resultate. Durch diese Schnelligkeit des Bekanntwerdens ergibt sich für das Einzelindividuum ein fortwährendes Überschwemmtsein mit Material, dem gegenüber die alten Erledigungsmethoden versagen.
Man sucht sich zu helfen durch eine Flucht zum Mittel der Association. Der historische Vergleich, die Heranziehung eines historischen Analogons, erleichtert und beschleunigt die Bewältigung der neuen Erscheinungen. Die Erfassung und Verdauung dieser Erscheinungen leidet aber natürlich unter dieser Methode – es ergibt sich wohl ein Beschäftigtsein mit der Zeit, aber kein »Die Zeit sein«. Denn es ist evident, daß der Kontakt der Individuen mit dem Geist der Zeit nicht ideal intim sein kann, wenn die Erscheinungsformen mit den Handschuhen der Analogie angefaßt werden. Da aber die erdrückende, durch das eigentümliche Tempo der Zeit hervorgerufene Überhäufung eine direkte associationslose intuitive Erledigung der einzelnen Resultate nicht zuläßt, die Erfassung durch Analogie aber unzulänglich, zum mindesten aber sekundär ist, erwächst die Notwendigkeit einer ganz neuartigen Einstellung.
Und diese neue Einstellung bildet sich ganz organisch dadurch, daß infolge der erhöhten Geschwindigkeit, mit der die Einzeldaten gekurbelt werden, der Blick von den einzelnen Inhalten abgezogen und auf den Gesamtverlauf der aus den verschiedenen Punkten gebildeten Kurve als eines sich zeitlich abwickelnden Phänomens gelenkt wird. Das Objekt unserer Betrachtung ist also jetzt die zeitliche Entwicklung und die in stetem Werden begriffene Physiognomie einer Kurve und nicht mehr das starre Nebeneinander einzelner Punkte.
Hier liegen auch die Gründe für unsere verzweifelte Hilflosigkeit gegenüber den Erscheinungen der bildenden Kunst. Der Blick, der in geistigen Dingen immer mehr auf die Betrachtung eines zeitlichen Geschehens gedrängt wird, weiß mit den starren, reduzierten zeitlosen Formeln der Malerei nichts mehr anzufangen.
Es will nicht mehr gelingen, die auf einen Moment zurückgeführte, durch einen »fruchtbaren« Moment symbolisierte Lebendigkeit eines Bildes als tatsächliches Leben zu empfinden.
Wo ist die Rettung?
Niemals in einer reaktionären Vergewaltigung unserer Geistigkeit, niemals so, daß man den Geist in mittelalterliche oder antike Gewänder zwängt. Nur so, daß man ihm die Nahrung gibt, die er verlangt und die er verdauen kann.
Und diese Nahrung wäre eine ganz neue Kunst.
Nicht etwa ein neuer Stil oder dergleichen. Sondern eine allen bekannten Künsten verschiedene Ausdrucksmöglichkeit, eine ganz neue Art Lebensgefühl in künstlerische Form zu bringen, »Malerei mit Zeit«.
Eine Kunst für das Auge, die sich von der Malerei dadurch unterscheidet, daß sie sich zeitlich abspielt (wie Musik), und daß der Schwerpunkt des Künstlerischen nicht (wie im Bild) in der Reduktion eines (realen oder formalen) Vorgangs auf einen Moment liegt, sondern gerade in der zeitlichen Entwicklung des Formalen. Da diese Kunst sich zeitlich abwickelt, ist eines ihrer wichtigsten Elemente der Zeit-Rhythmus des optischen Geschehens. Es wird sich deshalb ein ganz neuer, bisher nur latent vorhandener Typus von Künstler herausstellen, der etwa in der Mitte von Malerei und Musik steht.
Die Art des optischen Geschehens wird natürlich ganz von der Persönlichkeit des Künstlers abhängen. Nur beispiels- und andeutungsweise soll der Versuch gemacht werden, zu schildern, was man zu sehen bekommt.
Die Technik der Vorführung ist die der Kinematographie.
Es erscheint also z.B. an der Projektionswand eine chaotische Masse von schwarzen kantigen Flächen, die sich im plumpen, trägen Rhythmus zueinander bewegen. Dazu tritt nach einiger Zeit eine ebenfalls dunkle, schwerfällige wellenförmige Bewegung, die formal zu der schwarzen Kantigkeit in Beziehung steht. Die Steifheit der Bewegung und die Dunkelheit nimmt zu, bis eine gewisse Starrheit erreicht ist. Blitzartige, mehrmals wiederholte, in Intensität und zeitlicher Aufeinanderfolge gesteigerte Erhellungen zerreißen die dunkle Starrheit, es entwickelt sich daraufhin an einer bestimmten Stelle der Bildfläche ein sternartiges Helligkeitszentrum – die wellenartige Bewegung vom Anfang erscheint wieder, diesmal aber zunehmend aufgelichtet in lebhaf-terer Bewegtheit, immer in Verbindung mit dem Crescendo des Lichtzentrums, – runde weiche, helle blühen auf - und gleiten (in) die schwarze Kantigkeit des Anfangs und erreichen schließlich eine strahlende, frohe Helligkeit und tanzartige Bewegtheit des ganzen Bildes, die langsam in eine helle freudige Ruhe übergeht. Es mag dann eine drohende dunkle, schlangenartig schleichende Bewegung einsetzen, die anschwillt, die Helligkeit zurückdrängt und schließlich einen außerordentlich lebhaften Kampf zwischen Hell und Dunkel hervorruft – weiße Formen in Bewegtheit galoppierender Pferde stürzen sich gegen die andrängenden finsteren Massen – es entsteht ein Splittern, tobendes Durcheinander von hellen und dunklen Elementen, bis irgendwie durch sieghafte Steigerung des Lichts Ausgleich und Ausklang gebracht wird.
Dies ein Beispiel für die unendlich vielen Verwendungsmöglichkeiten von Licht und Finsternis, Ruhe und Bewegtheit, Geradheit und Rundung, Masse und Feingliedrigkeit und deren unzähligen Zwischenstufen und Kombinationen.
Die neue Kunst wendet sich natürlich nicht an das heutige Publikum der Kinotheater. Trotzdem kann auf alle Fälle mit einem erheblich breiteren Publikum gerechnet werden als es die Malerei hat, da die Aktivität dieser Kunst (dadurch,daß sich etwas ereignet) viel größer ist als die der Malerei, bei der ja der Beschauer die schwere Arbeit tun muß, die beabsichtigte Lebendigkeit an dem an sich starren Objekt des Bildes erst zu rekonstruieren.
Seit fast zehn Jahren bin ich von der Notwendigkeit dieser Kunst überzeugt. Erst jetzt bin ich der technischen Schwierigkeiten Herr geworden, die sich der Ausführung entgegenstellten, und heute weiß ich, daß die neue Kunst sein und leben wird – denn sie ist wurzelfestes Gewächs und nicht Konstruktion.
Quelle: Aus dem Walter Ruttmann-Nachlaß, ohne Titel, undatiert, vermutlich um 1919/20. Unter dem Titel »Malerei mit Zeit« veröffentlicht in: Birgit Hein/Wulf Herzogenrath (Hg.): Film als Film, 1910 bis heute, Stuttgart 1977, S. 63–64.
Walter Ruttmann, Malerei mit Zeit in: Jeanpaul Goergen, Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 73–74.